Das Kleine Buch Der Lebenslust
kommt oder geht. Die Freude geht auf leisen Sohlen. Man merkt sie kaum, wenn sie in unser Herz eintritt. Aber sie haust dort, wenn wir sie nicht gewaltsam vertreiben. Wenn die Freude Durst hat, leckt sie die Tränen von unseren Träumen. Sie wischt uns die Tränen vom Gesicht, damit sie unsere Träume nicht mehr verstellen. Die Freude bringt uns in Berührung mit den Träumen. Sie lässt die Träume wahr werden.
Alles ist zum Glück geboren
„Eine allgegenwärtige Freude umflutet die Erde, sie entströmt ihr, auf den Anruf der Sinne ... Alles strebt zum Sein, und jedes Geschöpf freut sich. Freude ist es, was du Frucht nennst, wenn sie im Saft steht, und wenn sie Gesang ist, Vogel. Dass der Mensch zum Glück geboren ist, lehrt uns die ganze Natur.“ Der französische Dichter André Gide ist von der universalen Kraft der Freude überzeugt. Sobald wir selber die Erde mit unseren Sinnen wahrnehmen, strömt uns aus ihr die Freude entgegen. Freude ist Kennzeichen jedes Geschöpfes. Sie gehört zum Wesen des Geschöpfes. Die Frucht, die in Blüte steht, ist Freude. Und der Gesang des Vogels ist Freude. Die Freude der Schöpfung drückt sich aus in den Geschöpfen selbst. Freude erfüllt uns mit Lebendigkeit, so wie eine Frucht uns mit Leben beschenkt. Und Freude atmet die Leichtigkeit des Vogels. Wie die Musik schwingt sie sich über die Erdenschwere hinweg und erhebt sich wie der Vogel in die Lüfte.
Für André Gide ist der Mensch zum Glück geboren. Wenn wir die Natur mit wachen Sinnenwahrnehmen, erkennen wir unser Wesen, das von innen her diesem Glück entgegenstrebt. Die Freude ist wie eine Essenz, die die ganze Erde durchdringt.
Kindheitslust
„Sage das nur, ob dein Herz/ Noch der Kindheit Lust empfinde.“ (Ludwig Uhland)
Kinder vermögen noch Lust zu empfinden. Sie geben sich lustvoll dem Spielen hin. Wenn sie etwas geschenkt bekommen, können sie sich von Herzen freuen und ihrer Freude hüpfend mit ihrem ganzen Körper Ausdruck verleihen. Viele Erwachsenen haben den Eindruck, dass sie sich nicht mehr zu freuen vermögen. Zu oft sind sie enttäuscht worden. Eine Form der Therapie bestünde darin, sich an die Lust der Kindheit zu erinnern. Ich kann die Lust zwar nicht wieder in mir hervorrufen. Doch allein die Erinnerung schon kann mich mit ihr in Berührung bringen. Und wenn ich sie in meinem Herzen wieder entdeckt habe, dann werde ich auch fähig, mich wieder über die kleinen Dinge des Alltags zu freuen. Dann bekomme ich wieder Lust, einfach zu spielen, etwas zu tun, was keinen Nutzen bringen muss, womit ich keine Erwartung von außen zu erfüllen habe. Wenn ich in mein Herz hineinspüre und die Lust der Kindheit nicht mehr darin entdecken kann, dann ist es an der Zeit, mich mit den Widerständen zu befassen, diemich daran hindern, mit meiner eigenen Seele in Berührung zu kommen. Vielleicht sind es traumatische Verletzungen, vielleicht Enttäuschungen. Ich muss all diese Widerstände anschauen, um durch die Wunden und Verhärtungen hindurch in den Grund meiner Seele zu gelangen, in dem die Freude bereitliegt und darauf wartet, wieder entdeckt und belebt zu werden.
Freudenbiographie
Die Schweizer Tiefenpsychologin Verena Kast hat ein Buch über die Freude geschrieben. Vor ihr hat sich kaum ein Psychologe einmal an dieses Thema gewagt. In psychologischen Nachschlagewerken findet man kaum einmal das Stichwort Freude. Offensichtlich hat die Psychologie sich einseitig den Verletzungen und deren Aufarbeitung zugewandt. Doch heute wissen wir, wie heilsam die Freude für den Menschen ist, welche therapeutische Kraft sie hat.
Verena Kast beschreibt die Wirkung der Freude als Erfahrung von Einssein und Ganzsein, von Freiheit und Vitalität: „Das Gefühl des Einsseins mit sich selbst und das Gefühl des Ganzseins, das so sehr von uns Menschen gesucht wird, ist im Moment der Freude vorhanden. Das gibt uns auch ein Gefühl von Vitalität, vielleicht sogar von Freiheit. Alle Bewegungen, die mit der Freude verbunden sind, sogar mit einer stillen Freude, sind Bewegungen in die Höhe, Bewegungen der Leichtigkeit.“
Es hilft nicht, einander zur Freude aufzurufen. Ich kann mich nicht „auf Befehl“ freuen. Aber ich habe es in der Hand, mit der Freude in Berührung zu kommen,die immer schon auf dem Grund meines Herzens in mir bereit liegt. Jeder kennt in seiner Kindheit Erfahrungen spontaner Freude. Verena Kast regt an, eine Freudenbiographie zu schreiben, all die Erfahrungen von Freude festzuhalten, die einem einfallen,
Weitere Kostenlose Bücher