Das Kloster der Ketzer
drücken! Und er fragte sich in diesem Moment unwillkürlich, wie Mönche und Nonnen es bloß schafften, auf dieses wahrlich göttliche Geschenk zu verzichten und für den Rest ihrer Erdentage ohne dieses Wunder der Liebe von Mensch zu Mensch zu leben. Er wusste, dass er weder die Kraft noch den Willen zu einer derartig radikalen Entsagung hatte.
»Ich denke, das werden die Konversen schon übernehmen«, antwortete sie und fragte mit fröhlichem Spott: »Oder gehörst du vielleicht auch zu ihnen?«
»Nein, ich warte darauf, hier als Novize aufgenommen zu werden«, sagte er, um dann hastig mit leiser Stimme hinzufügen: »Endlich bist du gekommen! Das waren schlimme anderthalb Wochen! Ich habe schon befürchtet, du würdest dich gar nicht mehr blicken lassen, Lauretia! Wenn du wüsstest, wie sehr ich jeden Tag darauf gehofft und gewartet habe, dich wiederzusehen!«
»Wegen der schäbigen Bibel?«, flüsterte sie neckend und blickte sich verstohlen um, ob sie beobachtet wurden.
»Ach was! Natürlich wegen dir!«, gestand er und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
»Es ging leider nicht eher, Sebastian. Meister Dornfeld...«
Sie unterbrach sich, als sie durch einen Spalt zwischen der Balkenladung und dem Kutschbock hindurch zwei bärtige Konversen sah, die in Begleitung eines Mönches aus den Trümmern der Brandruine traten und dem hoch beladenen Fuhrwerk zustrebten. Bei dem Mönch handelte es sich um Bruder Vitus, den Cellerar, wie Sebastian bemerkte. Hastig raunte Lauretia ihm zu: »Aber davon später!«
»Wo und wann später?«
»Ich habe die Bibel oben an der Landstraße im großen Ginstergebüsch versteckt. Wenn du dich aus dem Kloster schleichen kannst, werde ich heute Nacht so gegen elf dort auf dich warten. Sag, kannst du dich nachts überhaupt davonstehlen, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt?«
»Ich werde kommen, darauf gebe ich dir mein Wort!«, versprach Sebastian, der keine Bedenken hegte, sich im Schutz der Nacht unbemerkt aus der einstigen Kornmühle und durch das Loch in der halb eingestürzten Mauer aus dem Klostergelände schleichen zu können. »Ganz sicher!«
»Gut, dann verschwinde jetzt besser! Man sollte uns nicht zusammen sehen. Mönche sind recht misstrauische Gesellen, habe ich mir sagen lassen.« Sie warf ihm ein verstohlenes Lächeln zu, wandte sich sogleich von ihm ab und machte sich an den Stricken zu schaffen, mit denen die Bauholzladung gesichert war.
Sebastian entfernte sich rasch und mit zum Boden gerichtetem Blick, wie es die Klosterregel zwingend vorschrieb, in Richtung Abort. Es fiel ihm jedoch schwer, sich dabei nicht noch einmal nach ihr umzublicken. Aber er wusste mittlerweile, dass ein Kloster tausend Augen hatte und nur sehr wenig unbemerkt blieb.
Es war wohl nicht verwunderlich, dass es ihm an diesem Tag allergrößte Mühe bereitete, sich auf die Arbeit in der
Druckwerkstatt zu konzentrieren. Diesmal war er es und nicht der linkische Pachomius, den Bruder Scriptoris mehrfach ermahnen musste, die ihm zugeteilten Aufgaben gewissenhaft auszuführen. Und der Novizenmeister war nach dem unerquicklichen Wortwechsel mit dem Prior nicht gerade geneigt, auf Nachlässigkeiten mit Milde zu reagieren. Er war gereizt und seine bissigen Zurechtweisungen hatten es in sich.
»Was ist denn heute bloß in dich gefahren? So kenne ich dich ja gar nicht!«, raunte Pachomius ihm zu, nachdem Sebastian ein wahres Donnerwetter des Novizenmeisters über sich hatte ergehen lassen müssen, weil er ihm bei einer unbedachten Drehung das Winkeleisen aus der Armbeuge gestoßen und die Bleilettern über den ganzen Boden verstreut hatte. »Willst du mich heute vielleicht an Ungeschicklichkeit in den Schatten stellen?«
»Ich weiß es auch nicht«, murmelte Sebastian, während er hochroten Kopfes mit ihm über die Dielenbretter kroch, um die zerstreuten Buchstaben wieder einzusammeln. Dabei wusste er sehr wohl, was ihn bei der Arbeit so unaufmerksam machte.
Der Tag zog sich mit qualvoller Zähigkeit hin. Die Sonne schien sich einfach nicht gen Westen neigen und den Abend zu seinem Recht kommen lassen zu wollen. Es war, als hätte sich die Zeit gegen ihn verschworen und eine sadistische Freude daran, ihm das Warten auf das nächtliche Treffen mit Lauretia so sauer wie nur irgend möglich werden zu lassen.
Schlimmer noch als die Stunden der Arbeit in der Werkstatt wurden ihm die Gebetszeiten, in denen es keine Ablenkung gab. Ihm schien es, als würden sie eine wahre Ewigkeit dauern.
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