Das Kloster der Ketzer
frönen ganz zügellos der Selbstsucht und der Fleischeslust. Wozu auch sich mühen und gute Werke tun, wenn doch angeblich allein der Glaube reicht? Kein Wunder, dass Eure zersetzende Irrlehre ganz nach dem Geschmack des Pöbels ist! Aber was sagt neuerdings Euer langjähriger Freund und Förderer Johannes von Staupitz dazu, der einst Euer Klosteroberer war und Euch so viele Jahre treu beigestanden hat? Er hat sich enttäuscht von Euch abgewendet und die folgenden bezeichnenden Worte zu Eurer Ablehnung der guten Werke geschrieben: ›Höre des Narren Worte: Wer an Christus glaubt, der bedarf keiner Werke. Höre dagegen die Worte der Weisheit: Wer mir dient, der folge mir nach. Wer mich liebt, der nehme sein Kreuz auf sich!‹ Ja, dieses vernichtende Urteil kommt aus der Feder Eures langjährigen Wegbegleiters Johannes von Straupitz! Und er ist nicht der einzige von Euren einstigen Fürsprechern, der mittlerweile erkannt hat, welche Gefahren für den wahren
Glauben Eure Irrlehren in sich bergen! Und jetzt lasst uns mal davon reden, dass Ihr Eure anfangs so vielgerühmte Freiheit des Christenmenschen längst an Eure Landesfürsten verkauft habt, die Ihr einst mit den übelsten Schmähungen überzogen habt, und dass Ihr inzwischen dabei seid, Euch wie der Papst von Wittenberg zu gebärden und Euer eigenes festgemauertes Gewölbe aus einer Vielzahl von Dogmen zu errichten, die genau wie die römischen Dogmen ohne Widerspruch zu glauben und zu bekennen sind!«
Zu einer Auseinandersetzung darüber sollte es jedoch nicht mehr kommen, denn da ergriff der Abt auch schon das Wort und gebot der flammenden Rede des Priors Einhalt. »Ich denke, das muss bis morgen warten, Bruder Sulpicius, denn gleich ruft uns die Glocke zur Vesper. Für heute haben wir von Euch und Bruder Scriptoris auch mehr als genug gehört, was des Nachdenkens wert ist. Morgen zur selben Stunde werden wir die Disputation fortsetzen.«
Sebastian hätte nur zu gern noch erfahren, ob und mit welchen Erklärungen Bruder Scriptoris in seiner Rolle als Martin Luther die heftigen Vorwürfe des Priors entkräften konnte. Aber das musste nun wohl bis zum folgenden Abend warten.
Diesen geplanten zweiten Teil der Disputation sollte es jedoch nie geben, denn der Tod hatte längst seine dunklen, gewalttätigen Schatten über das Kloster geworfen und sollte mit teuflischer Heimtücke schon sein erstes Opfer fordern, noch bevor die Sonne im Westen verglüht war.
16
Nach der Komplet erledigte Sebastian seinen letzten abendlichen Küchendienst, der darin bestand, mit dem Reisigbesen den Steinboden des großen Gewölbes, das angrenzende Refektorium sowie den Gang vor der Küche gründlich zu fegen. Das kratzende Geräusch des Besens vermischte sich in der Küche mit dem rhythmisch kurzen, scharfen Geräusch einer Messerklinge, die mit geübten Bewegungen an einem Schleifstein geschärft wurde. Es war der Prior, der auf der anderen Seite des schweren, eichenen Anrichtetisches sein Messer an einem der drei Schleifsteine schärfte, die dort neben dem Fenster an dicken, geflochtenen Lederriemen von der Wand hingen.
Es roch im Küchengewölbe intensiv nach angebrannter Milch. Bruder Cäsarius hatte, abgelenkt von anderen Arbeiten, den Kessel mit der Milch für den Schlaftrunk des Abtes nicht rechtzeitig von der Feuerstelle genommen. Voller Ingrimm schüttete er die brennige Milch weg, griff zu einem anderen, sauberen Kessel und machte sich daran, ein zweites Mal Milch zu erhitzen. Bruder Candidus, einer der jüngeren Mönche und seit kurzem die rechte Hand des bärbeißigen Küchenvorstehers Cäsarius, wartete mit dem ihm eigenen Gleichmut darauf, dem ehrwürdigen Vater Abt das Tablett mit Krug und Becher auf sein Zimmer tragen zu können. Aber das würde jetzt wohl noch etwas dauern und dann musste Bruder Cäsarius ja auch erst noch reichlich Honig unter die Milch geben und gut verrühren. Und so nutzte er die Zeit des Wartens, indem er dem Prior auf der anderen Seite des schweren, eichenen Anrichtetisches Gesellschaft leistete und ebenfalls das Messer schärfte, das jeder Mönch an seinem Gürtel zu tragen hatte.
Als Sebastian fegend und seinen Gedanken nachhängend dem rechtwinkligen Knick der Küchenwand folgte und zur breiten Treppe gelangte, die hinunter in die weitläufigen Kellerräume führte, kam ihm Pachomius entgegen. Mit einem leisen Zischlaut machte dieser auf sich aufmerksam.
Sebastian hielt im Fegen inne und sah Pachomius fragend an. Der junge
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