Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
Vom Netzwerk:
Zeit genug, wenn er nicht unterwegs trödelte.
    Mit einem entschlossenen Schritt und Hoffnung im Herzen machte er sich auf den Weg; er marschierte zwar rasch, doch in einem gemessenen Tempo. Er fühlte sich gesättigt und ausgeruht und war in bester Stimmung. Zügig kam er voran und legte nur ab und zu eine Pause ein, um auf Geräusche zu lauschen, die möglicherweise auf irgendwelche Verfolger hinwiesen. Jedes Mal wenn er weiterging, war seine Zuversicht gewachsen, dass seine Flucht gelungen war und er den Treffpunkt in einer überschaubaren Zeit erreichen würde. Dabei setzte er auf die Tatsache, dass es vormittags sein würde, wenn er in die Nähe seines Ziels käme, und dass er die Abbiegung erkennen würde, wenn er sie wieder bei Tageslicht sähe.
    Vorausgesetzt natürlich, dass er lange genug leben würde, um das Licht eines weiteren Tages zu sehen.

----
DREISSIGSTES KAPITEL

    U nkenntnis mag ein Glück sein, aber sie ist dann immer noch Unkenntnis: Und Kit, der in der Nacht durch das dunkle Tal zog, hatte keinerlei Bewusstsein – nicht die leiseste Ahnung – von der Gefahr, in die er unbekümmert hineinspazierte. Zwar kann man ihm ein wenig Anerkennung zollen, weil er die drei schwarzen Buckel neben dem Fluss sah, doch er hielt sie für Steine – einen großen und zwei etwas kleinere. Für ihn waren es eben nur Geröllblöcke in einem Gebiet mit zahlreichen Felsbrocken, die entlang des Flussweges verstreut herumstanden oder -lagen. Erst als zu seiner rechten Seite ein unbemerkter vierter »Stein« sich urplötzlich auf den Hinterbeinen aufbäumte, erkannte Kit seinen Fehler.
    Aber da war er über den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, schon längst hinaus.
    Es war ein Bär! Er war schwarz wie ein riesiger Tintenklecks, und seine kleinen wachsamen Augen funkelten im fahlen Licht des verblassenden Mondes, als er seinen Kopf nach links und rechts schwang, um den Menschenduft genau zu erfassen, der ihn während seines Mitternachtsimbisses aus Flusskrebsen und -muscheln aufgerüttelt hatte. Es gab, wie Kit nun begriff, vier von ihnen: eine Mutter und drei halbwüchsige Jungen. Und da er es nicht gewusst hatte, war ihm der größte grundlegende Fehler unterlaufen, den man in der Wildnis machen konnte – exakt die Regelüberschreitung, vor der jedes Schulkind bei einem Ausflug ins Grüne gewarnt wurde: sich niemals zwischen eine Mutter und ihre Jungen zu begeben.
    Als der Bär seinen Geruch erfasste, stieß er einen halb unterdrückten Warnlaut aus und blieb regungslos stehen. Als Reaktion auf das Gebelfer des Jungen schnellte ein paar Dutzend Schritte von ihm entfernt zwischen den Felsblöcken der Kopf des Muttertiers hoch. Die große dunkle Schnauze schwang erst in die eine und dann in die andere Richtung, während die Kreatur mit zuckenden Nasenflügeln Kit ortete. Dann stellte sie sich auf die Hinterbeine, breitete ihre gewaltigen Vorderbeine aus, öffnete den mit spitzen Zähnen bewehrten Rachen und stieß ein Gebrüll aus, das so markerschütternd war, dass Kit glaubte, die Sterne könnten vom Himmel stürzen. Das raue, wilde Knurren eines in Wut versetzten Fleischfressers fuhr Kit in die Eingeweide, und die Schließmuskulatur lockerte sich, sodass die Bärin augenblicklich einen neuen und stechenderen Geruch wahrnahm, dem sie folgen konnte.
    Die große Bestie schlurfte auf ihren Hinterbeinen vor, was Kit jedoch nicht sah, weil er inzwischen verzweifelt nach einem Baum Ausschau hielt, auf den er klettern konnte. Unglücklicherweise standen die einzigen Bäume, die nahe genug waren, um ihm ausreichend Schutz zu bieten, hinter der Bärin, die gerade in diesem Moment ihre Kräfte für einen Angriff sammelte. Als das Tier erneut brüllte, war Kit bereits auf dem Rückzug: Er bewegte sich rückwärts auf den, wie er meinte, schützenden Wald hinter ihm zu – der allerdings viel zu weit hinter ihm war.
    Doch es gab keine bessere Option für ihn. Er drehte sich um, und innerhalb von drei Schritten hatte er mit rudernden Armen die Flucht angetreten.
    Kit rannte mit der selbstvergessenen Hingabe eines wahrhaft Verzweifelten. Er kletterte über große und kleine Felsen; er stolperte, platschte in Pfützen, stieß sich Knie und Schienbeine an; immer wieder rappelte er sich auf und mühte sich über den unebenen, tückischen Untergrund. Die Bärin hatte nicht mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie stürmte nach vorn mit der Schwungkraft eines außer Kontrolle geratenen Güterzuges; mit jedem Schritt nahm

Weitere Kostenlose Bücher