Das Krähenweib
Ungemach der Reise hatte sie den Blick zu den entlaubten Baumkronen gehoben. Dort beobachtete sie ein paar Krähen, die über ihnen kreisten und sich auf ihren großen schwarzen Schwingen vom Wind tragen ließen. Ihr fiel wieder ein, wie sie sich in Walsrode gewünscht hatte, eine von ihnen zu sein, in der Luft zu schweben und jeden Ort nach Belieben erreichen zu können, ohne an irdische Fesseln gebunden zu sein.
»Schau, da ist das Schloss!«, rief plötzlich die Magd, die neben Annalena saß, und stieß sie mit dem Ellbogen an. Ihr Name war Maria. Sie war eines der lebhaftesten Mädchen in Fatimes Gefolge und stets bemüht, die ruhigeren ein wenig aus der Reserve zu locken.
Annalena richtete den Blick auf den prunkvollen Bau jenseits des Sees, den sie jetzt umrundeten.
»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, fragte Maria.
Annalena konnte ihr nur recht geben. Das Schloss war wirklich schön. Zwar übertrumpfte es das halbzerstörte Dresdner Schloss nicht, aber es wirkte auf seine Weise würdevoll. Vier prunkvolle Giebel blickten jeweils in eine andere Himmelsrichtung und ein hoher Turm reckte sich in den grauen Winterhimmel. Das Schloss lag auf einer kleinen Insel inmitten des Sees. Eine Brücke führte zur Insel, und dieser strebte der Tross nun zu.
»Seine Majestät hält dort wunderbare Falken in großen Volieren, und die Falkner sind alle hübsche Männer«, erklärte Maria augenzwinkernd weiter.
Annalena fragte sich, wie sich Falken in Gefangenschaft wohl fühlten. Waren sie nicht wie Krähen dazu gemacht, frei in der Luft zu schweben? Was nützt es, ein prachtvoller Falke zu sein, wenn man nicht dorthin fliegen kann, wohin man will?, fragte sie sich. Den Krähen bindet niemand die Flügel zusammen! Und selbst, wenn man sie fängt, flattern sie irgendwann aus dem Fenster davon.
Auch sie war gefangen worden, von Röber und seinen Forderungen. Doch warte nur. Ich werde davonfliegen und meinen Liebsten mitnehmen.
Gelegenheit, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, hatte sie nicht mehr, denn im nächsten Moment rollte die Kutsche auf den Schlosshof.
Da die Damen erwarteten, dass man ihnen aus den Kutschen half, blieb den Mägden nicht viel Zeit, die schmerzenden Rücken zu strecken. Sogleich hieß es für sie, wieder an die Arbeit zu gehen, und während Annalena dabei half, einige leichtere Körbe abzuladen und in das Schloss zu tragen, hielt sie nach den Falken Ausschau. Doch leider konnte sie keinen einzigen entdecken. Dafür saßen Krähen in den Bäumen und krächzten der Gesellschaft einen Willkommensgruß entgegen.
Am Abend fanden sich Röber und die beiden Preußen zu einer Unterredung in ihrer Unterkunft zusammen.
»Ich sage Euch, es ist Zeitverschwendung!« Marckwardt verschränkte die Arme vor der Brust und marschierte im Zimmer auf und ab. »Das Weib wird uns nie und nimmer sagen, wo sich Böttger aufhält. Außerdem ist es fraglich, ob sie es überhaupt herausfinden kann. Das Schloss ist groß.«
Röber sah die ganze Sache ein wenig gelassener. »Ich bin davon überzeugt, dass sie ihn ausfindig machen wird. Immerhin ist sie sein Liebchen, und wie man sehen kann, ein sehr treues.«
»Dann wird sie versuchen, ihn zu warnen«, entgegnete Schultze und ballte seine am Kaminsims aufgestützte Hand zur Faust.
»Und wo ist das Problem?«, fragte Röber.
»Dass sie uns verraten könnte!«, entgegnete der Spion aufgebracht. »Wir hätten sie unauffällig beobachten und ihr folgen können, wie wir es in Wittenberg getan haben.«
»Meint Ihr wirklich, dann hätte sie sich auf die Suche nach ihm gemacht?« Ein listiges Lächeln huschte über Röbers Gesicht. »Sie glaubte ihn schließlich noch in Wittenberg. Wenn wir uns an ihren Rockzipfel hängen, können wir ihn bald nach Cölln bringen und …« Bevor er weiterreden konnte, hämmerte jemand gegen die Kammertür.
Die Männer unterbrachen ihr Gespräch augenblicklich. Schultze zog seine Pistole, Marckwardt seinen Dolch, und nachdem sich beide neben der Tür plaziert hatten, bat Röber den Gast herein.
Der Mann wirkte grobschlächtig, ja, es kam Röber so vor, als würde er den gesamten Türrahmen ausfüllen. Der Hüne sah sich beim Eintreten kurz um, erblickte nicht nur Röber, sondern auch die beiden Spione, die sich bereithielten, einen Angriff zu parieren.
»Verzeiht die Störung, meine Herren«, sagte der Fremde, und für einen Moment glaubte Röber, dass er sich lediglich in der Tür geirrt hatte. Doch seine nächsten Worte räumten jeden
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