Das Kreuz der Kinder
Linosa
verschwunden war. Dann erst betrachtete er die
Ledermappe des braven Mohren und las nachdenklich den
säuberlich gemalten, kunstvoll verzierten Titel.
aus der Niederschrift von Mahdia
Ein Winter in Iffriqia
Bericht des Mohren
Der zweite Sommer, seitdem die Kinder in Frankreich und
Deutschland aufgebrochen, war ins Land gegangen. Über
das Felsenriff von Mahdia zogen die ersten Herbststürme
hinweg. Der gewölbte Leib von Melusine zeigte an, daß es
nur noch Frage weniger Wochen sein würde bis zur
Niederkunft – und keine Spur von dem Vater des Kindes,
das sie mit Bangen erwartete. Es hieß, er halte sich in
Tunis auf, doch nicht als freier Mann, jedenfalls nicht mit
der Freiheit, in sein Emirat am Horn von Iffriqia
heimzukehren.
Timdal gelingt es immer leichter, sich heimlich Zugang
zu Melusine zu verschaffen. Er kennt sich inzwischen im
›Palast des Prinzen‹, wo der Harem untergebracht ist, so
gut aus, daß er die Wächter mühelos umgehen kann. Mit
dem Fortschreiten ihrer Schwangerschaft spricht Melusine
den Mohren immer weniger auf Pol an, den sie für tot hält
– und auf den verschollenen Rik, ihren blonden deutschen
Ritter, schon gar nicht. Ihr Sehnen gilt einzig Kazar, dem
Mann aus der Fremde, der sie zur Frau machte, dessen
Sohn in ihrem Bauch heranwächst – daß es ein Sohn sein
würde, davon war sie felsenfest überzeugt. Es fällt Timdal
ungeheuer schwer, kein Wort, außer unverdächtigen
Reminiszenzen über ihren totgeglaubten, jungen
Landsmann aus dem Languedoc fallen zu lassen, denn er
weiß genau, daß Pol nur aus Liebe zu seiner ›Melou‹ in
diese furchtbare Lage geraten war. Der Mohr hatte zudem
seit einiger Zeit den Majordomus im Verdacht, den
Eingekerkerten heimlich zu foltern, einmal um sich an den
Qualen des Wehrlosen zu weiden, zum anderen trieb den
Moslah die unbefriedigte Neugier, endlich zu erfahren,
was Pol bewogen haben konnte, verkleidet in Mahdia
einzudringen. Sollte es seinem Kerkermeister gelingen,
Pols Schweigen zu brechen, konnte sich die Situation des
Mohren schlagartig verschlechtern, denn bisher hatte er
sich mit Erfolg ahnungslos gegeben, indem er eifrig
vorgab, den jungen Mann nach wie vor für einen
begüterten Kaufmannssohn zu halten. Doch das half Pol
nichts, und Timdal wußte nicht, wie lange der die
Quälereien noch aushielt. Deswegen war er nicht
abgeneigt, das Risiko des Vorschlags auf sich zu nehmen,
den die zusehends immer bedrücktere und bald
verzweifelnde Melusine ihm machte. Der Mohr sollte sich
nach Tunis begeben und zusehen, dort wenigstens auf
irgendeine Art in Verbindung mit Kazar Al-Mansur zu
treten, sie wolle endlich wissen, wie es um ihren Mann
stünde. Nun war es leichter, nach Mahdia
hineinzukommen als ohne Genehmigung hinaus. Bab
Zawila, der einzige Torweg, war Tag und Nacht besetzt,
und die Flucht im Hafen zu versuchen, war sinnlos –
außerdem hatte der Moslah überall seine Zuträger – und er
keinen einzigen Verbündeten. Timdal trug auf beiden
Schultern, oben im Harem litt er zusammen mit Melusine,
unten in den Verliesen bedrückte ihn die Lage Pols, ohne
daß er den Unglücklichen zu Gesicht bekam. Doch ein
Ausweg aus diesem Dilemma wollte ihm, der sich und
anderen in den unmöglichsten Lagen stets zu helfen
wußte, diesmal nicht einfallen.
In Tunis, dem Sitz des Gouverneurs von Iffriqia, befand
Ahmed Nasrallah, der Kabir at-Tawashi und derzeitig
Ausübender der Regierungsgewalt, daß es an der Zeit sei –
einige Monate waren vergangen, seit er den Deutschen in
die Obhut des Muftis Ibrahim und dessen Bruder Zahi
gegeben hatte –, sich nach den Fortschritten des Sklaven
zu erkundigen. Er wollte sich selbst von den errungenen
Sprachkenntnissen des Rik van de Bovenkamp
überzeugen, denn wenn er sich mit dem blonden Ritter auf
Arabisch verständigen könnte, stellte sich der Eunuch
auch vor, dem Sklaven eine herausgehobene Position bei
Hofe zu geben und vor allem in seinem eigenen Leben.
Denn der Deutsche hatte ihm gut gefallen; Ahmed
Nasrallah verspürte regelrecht Sehnsucht danach, ihn in
seine Arme zu schließen. Also begab sich der mächtige
Kabir at-Tawashi hinaus nach Gammart, nahe den Ruinen
des alten Karthago, wo der Mufti seinen Landsitz hatte
und den Sommer zu verbringen pflegte.
Rik wurde von den Brüdern keineswegs wie ein Sklave
gehalten, sondern als Koranschüler ausgebildet, wobei sie
die Frage nach seinem Übertritt zum Islam nicht
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