Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
es durch den ganzen Maschinenraum, und auch auf der Brücke und an Deck erklangen vereinzelt Freudenrufe. Neue Ankunftszeit: 21.20 Uhr. Das war noch kein Weltuntergang.
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Thomas liebte es, wenn die Abendbläue sich über das Land breitete und allmählich alles dunkler erscheinen ließ, bis schließlich nur noch die Umrisse von Menschen und die Silhouetten der verschiedenartigsten Gegenstände auszumachen waren, und wenn dann die Nacht hereinbrach. Die Nacht sei jene Zeit des Tages, in der noch überall Gefahren lauerten, meinte der Junge, in der Einbrecher ihrem Handwerk nachgingen, geheime Treffen im Schutz der Dunkelheit abgehalten würden und vieles mehr. Nun warteten er und seine Familie hier an einem mit halbmannshohem Bewuchs aus Dickicht locker bestandenen Strandabschnitt, unweit ihres Heimatortes Kingswear auf ein geheimnisvolles Schiff aus Deutschland, das sie nach Neuseeland bringen sollte. Konnte es etwas Aufregenderes geben für einen Lausbuben wie ihn? Überall waren fremde, ihm völlig unbekannte Personen, die sich zwischen den Büschen aufhielten und mit ihm und den Seinen ausharrten.
Es mochten wohl um die fünfzig Menschen sein, schätzte er – und lag damit nur um einen Mann daneben, denn es waren ihrer neunundvierzig.
Um acht solle es losgehen, hatte George Strafford, sein Vater, gesagt, bevor sie sich hierher auf den Weg gemacht hatten. Thomas zog sein Handy hervor, drückte wahllos eine Taste, um das Display aufleuchten zu lassen und warf einen neugierigen Blick auf die digitale Zeitangabe: 20.05 Uhr. „Sieh an, sieh an,“ dachte er, „sind die Deutschen doch nicht so pünktlich, wie es immer heißt.“ Nicht nur er hatte bemerkt, daß acht Uhr verstrichen und von einem Schiff, geschweige denn von einem großen, noch nichts zu sehen war. Es fehlte einfach jede Spur; nicht einmal ein Licht zeigte sich am Horizont, das man für einen Vorboten des herbeigesehnten Besuches hätte halten können. Die Wartenden sahen in immer kürzeren Abständen auf ihre Armbanduhren oder bemühten ihre Mobiltelefone zu diesem Zweck, die sie reihum zückten.
Thomas sah seinen Vater an, der etwa zwei Meter neben ihm stand. Deutlich konnte der Junge trotz der aufgezogenen Finsternis die Gesichtszüge erkennen, die wie immer hart, kühl und entschlossen wirkten, wiewohl um seinen Mund von Zeit zu Zeit ein nervöses Zucken spielte, das kaum auffiel. Thomas konnte es auf diese Entfernung und aufgrund der Lichtverhältnisse eigentlich bloß erahnen. George, der bemerkt haben mußte, daß sein Sohn zu ihm hinübersah, sagte an diesen gerichtet: „Keine Sorge, Tommi, ein Schiff ist eben kein Zug. Die werden schon noch hier auftauchen, davon bin ich überzeugt. Das wäre das erste Mal, daß man den Hunnen Unzuverlässigkeit nachsagen müßte.“ Seine Gesichtszüge veränderten sich immer ein wenig, aber entscheidend, wenn er zu seinen Kindern oder mit Susan sprach. Sie nahmen sich dann prompt nicht mehr so hart aus, sondern zeigten vielmehr einen weichen, gutmütigen Ausdruck, welchen die Augen noch unterstrichen.
Das Wort „Hunnen“ gebrauchte er nur scherzhalber für die Deutschen – und im Gegensatz zu vielen Menschen, leider auch zu vielen seiner Landsleute, wußte er um Bedeutung und Entstehung dieses Schmähwortes, das die antideutsche Kriegspropaganda nicht nur des Ersten Weltkrieges durchzogen hatte. Er konnte die „Hunnenrede“ Kaiser Wilhelms II. in den historischen Kontext einordnen, wußte Bescheid über den Boxeraufstand und sah sich deshalb befugt, das Wort zu benutzen. Nur im Spaß, das verstand sich wohlgemerkt von selbst.
Es verging noch eine Viertelstunde der Ungewissheit und des Bangens, bis Mrs. Hopkins, die etwas abseits mit ihrer Freundin, Dr. MacGregor und dessen Partnerin Francis gestanden hatte, eine Textnachricht von Herrn Lunt, dem Reeder, erhielt, welche folgende Informationen beinhaltete: Es habe einen unvorhergesehenen Vorfall in der Maschine gegeben, die Besatzung habe diesen bereits behoben, und das Schiff werde in einer Stunde vor Ort sein. Es bestehe kein Grund zur Sorge, und man bitte, die Verspätung zu entschuldigen. Sie trug diese Botschaft alsbald weiter, indem sie auf eine Gruppe von Leuten zueilte und ihnen berichtete, was sie soeben „in Erfahrung gebracht“ habe – und wieder zeigte sich dabei ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. Auch einige andere Anwesende empfingen die gleiche Mitteilung, so daß sich von ihnen aus die beruhigende Kunde ringsherum
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