Das Kreuz des Zitronenkraemers
Tageslicht mehr gesehen. Draußen war ein herrlicher Tag. Andreas lauschte die Welt. Er rief laut um Hilfe. Dann lauschte er wieder. Er hörte nur Vögel zwitschern. Er konnte Bäume und Äste erkennen. Er musste irgendwo im Wald sein. Weiß der Geier, wann hier mal jemand vorbeikommt, dachte Andreas mutlos. Er spürte sein Handy in der Tasche. Vielleicht konnte es doch noch Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Vielleicht suchte ja doch jemand nach ihm. Claire würde sein Handy erkennen, sie hatte es ihm geschenkt und seine Initialen eingravieren lassen. Er nahm das Handy, streckte eine Hand aus dem Loch und warf seine einzige Hoffnung, gefunden zu werden, hinaus in den Wald. Dann schloss er die Klappe sorgfältig und machte sich zurück zu seiner Matratze. Er überlegte, wie er die durchgesägte Kette vor dem Bundestrainer würde verstecken können.
Kapitel 11
Die Uhr zeigte eine Minute nach neun. Anne war die erste Kundin in der Apotheke. Ihr Kopf brummte unablässig. Wahrscheinlich das Ozon, dachte Anne. Die Leute im Fernsehen warnten dauernd davor. Viel zu hohe Werte bei dieser Hitze. Außerdem sollte man ausreichend trinken. Oder ob ich doch ein Schleudertrauma oder so was habe? Wäre ja kein Wunder wegen Hannes Stunt - Einlage gestern mit dem Auto in Düsseldorf. Auf Hannes war sie sowieso sauer. Heute hatten sie sich eigentlich zusammen auf die Suche nach Andreas begeben wollen. Aber Hannes hatte früh am Morgen angerufen und die Sache abgeblasen. Wichtige Arbeit im Weinberg ließe ihm keine Zeit. Na ja, war vielleicht auch besser so, bei ihrem Brummschädel. Die Schmerzen könnten auch von ihrem verspannten Nacken kommen. Aber was auch immer das Pochen im Hirn verursachen mochte, Anne hielt es nicht mehr aus. Sie musste dringend etwas dagegen unternehmen. Da war so eine Apotheke im Erdgeschoss des eigenen Hauses schon sehr praktisch.
„Hallo, Frau Seifert“, wurde sie persönlich vom Apotheker begrüßt, „lange nicht gesehen, wie geht’s Ihnen?“
„Ach, danke, eigentlich ganz gut, nur diese verdammten Kopfschmerzen…“ „Ja, ja, diese Hitze macht den Menschen schwer zu schaffen, sogar uns jungen, aktiven…“ „Äh, ja, also, eine Packung Kopfschmerztabletten bitte.“
„Aber gerne doch.“ Der Apotheker zog eine lange, schmale Schublade aus einem Schrank heraus.
„Also, wenn Sie mich fragen“, er zog die Stirn kraus, „ist das der Anfang vom Klimawandel. Überlegen Sie doch mal“, forderte er Anne auf, „erst dieses Schneechaos bis in den März hinein, dann der viel zu kalte Frühling, der eigentlich gar keiner war, dann die Stürme und der Dauerregen bis Anfang Juni. Das ist doch alles nicht mehr normal. Und jetzt diese Hitze, ganz fürchterlich, besonders für alte und kranke Menschen, die können sich ja kaum schützen. Und Schuld sind wir, die Menschen. Aber die Amerikaner haben es ja nicht nötig, das Kyoto - Protokoll zu unterzeichen.“
„Ja, da haben Sie wohl recht“, stammelte Anne und sah begehrlich auf die Packung Schmerztabletten in der Hand des Mannes. Sie wollte sich jetzt eigentlich nicht an einer Diskussion über die Weltpolitik beteiligen, sondern lediglich einen dieser kleinen Wunderheiler einwerfen und sich mit einer Flasche Wasser auf ihr Sofa zurückziehen.
„Sie sollten einen höheren Sonnenschutz tragen“, bemerkte der Apotheker mit kritischem Blick und deutete auf Annes bloße Schultern. Diese leuchteten in einem kräftigen Rot unter dem hellen Top. Annes Gesicht beschlich die gleiche Färbung, als sie an den Nachmittag am Rheinufer dachte, gestern, mit Hannes. Eigentlich war ja gar nichts passiert. Nur ein kleiner Kuss. Nichts von Bedeutung, wirklich nur ein ganz kleiner, harmloser Kuss. Trotzdem, dachte Anne, ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verrenne, ich hatte doch alles so gut im Griff. So etwas darf nicht noch einmal passieren. Das war besser für sie selbst und auch für Hannes. Sie wollte keine falschen Hoffnungen in ihm wecken. Eine erneute Beziehung kam definitiv nicht in Frage, die erste war gescheitert, warum sollte die zweite besser laufen? Und solche Techtelmechtel zwischendurch machten die Situation doch nur schlimmer. Anne beschloss gerade in Gedanken, sich in Zukunft besser zusammenzunehmen, als sie die Hand des Apothekers vor ihrem Gesicht herumfuchteln sah. „Frau Seifert? Ist alles in Ordnung?“
„Ja, ja“, erwachte Anne aus ihrem Gegrübel. „Wissen Sie, ich hatte mich gestern gar nicht eingecremt, war alles ein
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