Das kritische Finanzlexikon
und Verbindlichkeiten gleichen sich vollkommen aus. Gäbe es noch Überhänge, würden lediglich diese »Spitzen« verrechnet. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Wirt gegenüber dem Getränkelieferanten mit weiteren 100 Euro in der Kreide stünde, gleichzeitig aber noch 50 Euro vom Metzger bekäme. Dies würde ein clearing -Programm wie folgt strukturieren:
Der Bauer kann sich zurücklehnen, denn seine Verbindlichkeiten entsprechen nach wie vor den Forderungen. Der Wirt hat Verbindlichkeiten in Höhe von 200 Euro und Forderungen von 150 Euro; er muss also noch 50 Euro zahlen. Auch der Metzger hat netto noch 50 Euro zu begleichen. Lachender Dritter ist der Getränkelieferant, dem insgesamt noch 100 Euro zustehen. Ein clearing -Programm würde in diesem Fall zwei Überweisungen in Höhe von 50 Euro zu Gunsten des Getränkelieferanten veranlassen, die erste zu Lasten des Wirtes, die zweite zu Lasten des Metzgers. Das ist der Ausgleich der »Abrechnungsspitzen«.
Im obigen Beispiel handelt es sich natürlich – in der arroganten Bankersprache ausgedrückt – um peanuts . In der Finanzwelt werden täglich Milliarden per clearing verrechnet. Pro Handelstag werden zum Beispiel auf den internationalen Märkten Devisentransaktionen im Gesamtwert von 4 000 Milliarden US-Dollar und Aktienhandelsgeschäfte im Volumen von 450 Milliarden US-Dollar durch clearing -Programme erfasst.
Der Vorgang des clearings ist so nüchtern, dass sich üblicherweise kaum jemand dafür interessiert. Es kann jedoch vorkommen, dass ein clearing -System in den Fokus wirtschaftspolitischer Erörterungen und Streitgespräche rückt. Zum Beispiel Target. Die Abkürzung steht für Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System). Es handelt sich hierbei um ein von der EZB (→Europäische Zentralbank) betriebenes clearing -System für europaweite Zahlungen. Der neoliberale Super-Ökonom Hans-Werner Sinn hat die kontroverse Debatte zu Target angestoßen. In seinem Buch Die Target-Falle: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder bringt er eine Botschaft unter das Volk, die man, überspitzt formuliert, wie folgt beschreiben kann: Die Euro-Krisenländer lösen ihre Finanzprobleme zu Lasten Deutschlands mithilfe des Zahlungssystems der EZB. Übertragen auf unser Beispiel befindet sich Deutschland demnach in der Position des Getränkelieferanten, der Forderungen gegenüber dem Wirt und dem Metzger hat, auf die Geldverrechnung vorerst verzichtet und im weiteren Zeitablauf immer mehr Getränke an die beiden liefert, dadurch noch mehr Forderungen aufbaut – um schließlich festzustellen, dass diese Forderungen niemals beglichen werden.
So wird ein clearing -System zum Schreckgespenst. Aber auch andere Konstruktionen aus der Finanzwelt können zum Schreckgespenst mutieren. Zum Beispiel Zweckgesellschaften.
Conduits
Im Abschnitt → außerbilanzielle Geschäfte haben wir das Schicksal von Markus verfolgt, der sein kleines Unternehmen durch private Wettschulden nahezu an die Wand gefahren hat. Das können Banken auch.
Riskante Bankgeschäfte locken mit hohen Renditen. Lässt eine Bank in Deutschland sich auf riskante Deals ein, ist das, sofern es publik wird, nicht gut fürs Image. Außerdem könnte es sein, dass sich die Bankenaufsicht für solche Geschäfte mehr interessiert, als es den Finanzmanagern des Kreditinstitutes lieb ist. Wer den Reiz des renditeträchtigen, aber riskanten Agierens ausnutzen und dennoch sein Tun geheim halten möchte, gründet eine Zweckgesellschaft, auch Conduit genannt.
Zu diesem Zweck begibt sich eine Bank zunächst mal in ein anderes Land, vorzugsweise eine Steueroase. Dort wird die Zweckgesellschaft gegründet, und sie erhält einen phantasievollen Namen. (Hier eine kleine Auswahl der Bezeichnungen, die deutsche Banken vor Ausbruch der Finanzkrise 2007 ins Leben riefen: »Ormond Quay«, »Poseidon«, »Salome« oder »Check Point Charly«.) Dann kauft man hochriskante Papiere, zum Beispiel → CDO . In der Heimat erfährt man von diesem Treiben meist nichts, denn häufig sind solche Aktivitäten »konsolidierungsfrei«, sprich: sie tauchen nicht in der Bilanz der deutschen Bankenmutter auf. (Aufgrund der Komplexität der zugrunde liegenden Vertragsbedingungen gibt es für die Akteure sehr große Ermessenspielräume, was die Frage einer Einbeziehung in die Bilanz angeht.)
Ein besonders krasses Beispiel in Sachen Nicht-Konsolidierung lieferte vor einigen Jahren die Sächsische
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