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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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deutschen Literatur fand sich von alledem – nichts. Man diskutierte lautstark über den Realismus, das Ende der Nabelschau, der endlosen Schriftsteller-Nachmittage in der Gegenwartsliteratur und das Aufreißen der Türen und Fenster, und was fand man draußen: den eigenen Vorgarten. Die Sandkastenspiele der Kindheit. Vor allem aber: alte Fliegerbomben, letzte Weltkriegstrümmer, die gute alte böse deutsche Geschichte. In keinem der Berichte über ebenjenes ausführlich geschilderte Klagenfurt-Festival 1993 beispielsweise wird auch nur irgendwo, an irgendeiner Stelle erwähnt, dass wenige Kilometer entfernt ein blutiger Bürgerkrieg tobt, dessen Wirklichkeit doch vieles der damals beschworenen »Gegenwart« der Literatur sehr nebensächlich, eskapistisch und weltabgewandt erscheinen lässt. In Helmut Kraussers bereits zitiertem Tagebuchbericht von Klagenfurt steht ganz unvermittelt der Satz: »100 Kilometer entfernt ist Krieg«. (Immerhin, in seiner Geschichte ging es ja um einen Jugendlichen, der, in jenen fernen achtziger Jahren, nicht zum Bund will und sich, aus Angst vor dem Kreiswehrersatzamt, einen Finger abhackt.) Mit dem Krieg kam die deutschsprachige Literatur auch dann nicht zurande, als sie Gegenwart und nichts als die Gegenwart sein wollte. Weil sie vergessen hatte, wie man vom Krieg erzählen kann. Vielleicht weil sie Angst hatte, Heldengeschichten zu erfinden. Vielleicht weil sie sich eben doch zu voreilig oder zu bequem als eine unpolitische Literatur entworfen hatte, weil »Gegenwart« vor dem 11. September vor allem Party und nicht Politik meinte. Wenn ein Alexander von Schönburg das August-Erlebnis 1914 beschwört, so ist auch das vor allem ein Stilzitat: Man möchte so lässig aristokratisch wirken wie die Eton-Schüler von damals, der Blutfleck ein Accessoire.
    Im Jahr 2005 reist Thomas Hettche auf Einladung der Robert-Bosch-Stiftung durch Bosnien. In seinem Bericht blickt er auf den furchtbaren Krieg in diesem Land zurück, einen Krieg, der das Erwachen aus einem Traum bedeutete: »Der Krieg in diesem Land war die erste Insel des Erwachens, die aus unserem Traum der Moderne auftauchte, in dem der Frieden sich von Europa aus über die ganze Welt ausbreitete.« Der Krieg war das Ende einer geschichtsphilosophischen Utopie, das gilt für jeden, der im Fernsehen fassungslos die Bilder sah. Doch für den Schriftsteller folgt daraus noch viel mehr. Als sich Hettche mit ein paar Studenten trifft – alle waren als Jugendliche für ein paar Jahre als Flüchtlinge in Deutschland – hat er plötzlich ein Aha-Erlebnis: »Und ich verstehe zum ersten Mal, dass die Entscheidung meiner Generation zur Unzuständigkeit, auf die wir uns immer so viel eingebildet haben, einfach aus der Zeit fällt.« Dem wortmächtigen Autor wird »beschämend unsere Sprachlosigkeit« bewusst, das Versagen einer Generation, die richtigen Worte zu finden und Entscheidungen zu treffen.
    Es ist auch das Eingeständnis eines künstlerischen Versagens: »Doch noch immer, denke ich, ist der Roman, der in Deutschland nicht zufällig während eines Krieges, nämlich des Dreißigjährigen, entstand, die prädestinierte literarische Form, davon zu erzählen.« Und dann kommt ein irrer Satz, die schonungslose Selbstkritik eines der wichtigsten deutschsprachigen Romanciers: »Viel zu sehr meidet er (also der Roman) heute die Gegenwart, für die er doch einmal entstand.« Schließlich fasst Thomas Hettche seine Überlegungen in einer Sentenz zusammen, die sich alle Schriftsteller hinter die Ohren schreiben sollten: »Jeder Roman schuldet der Welt die Notwendigkeit seiner Existenz.« Wow. Das ist ja mal ein ästhetisches Programm. Keine weiteren Fragen, euer Ehren.
    Seit 2002 führt die Bundeswehr Krieg in Afghanistan, mehr als siebzigtausend Soldaten haben seither insgesamt am Einsatz teilgenommen, in den letzten Jahren zunehmend auch an aktiven Kampfhandlungen. Stand Mai 2010 wurden insgesamt dreiundvierzig Soldaten getötet, Hunderte verwundet. Viele haben Kameraden verloren und haben selbst Feinde oder auch irrtümlich Unbeteiligte getötet.
    Warum haben sich die Erfahrungen dieses Krieges, die ja nur der kleine bundesrepublikanische Ausschnitt aus dem weltweiten Kriegsszenario vor allem in Afghanistan und in Irak sind, nicht in der Literatur niedergeschlagen? Eine stetig wachsende Zahl von Deutschen hat direkt mit dem Krieg zu tun, hinzu kommen die Ängste und Sorgen der Angehörigen, im schlimmsten Fall der Schrecken und die Trauer um

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