Das kurze Glueck der Gegenwart
»Oberhavel« genannten Örtchens wie den Mitgliedern eines fremdes Volkes. Er beobachtet ihre Rituale, wie man es im tiefsten afrikanischen Busch tun würde, und hält dabei seine eigene Beobachterposition stets im Bewusstsein des Lesers. »Jeder kannte jeden. Jeder kannte wirklich jeden. Es gab, bis auf den Reporter, nur Stammgäste in diesem Lokal.« Die Stärke des Buches ergibt sich dann gerade aus der Genauigkeit der Beobachtung: »Die neu eintreffenden Gäste klopften zur Begrüßung auf die Tischplatten. Beim Händeschütteln war es wichtig, die Hand des Begrüßten nicht zu schütteln und nicht zu drücken, es sollte mehr so ein beiläufiges Berühren der Fingerspitzen sein, und ganz wichtig war, dass man dem Begrüßten beim Handgeben keinesfalls ins Gesicht, sondern möglichst deutlich an ihm vorbeisah.«
Das ist ebenso präzise wie komisch beschrieben. Der Reporter stellt fest, dass es kein »typisches Prekariatsgesicht« gibt, sondern eine wilde Vielfalt. Die Unterschicht ist eine Geschichte für sich: »Da waren wirklich alle Typen miteinander zugange, also Dauer-blau mit Freitagabend-blau mit Gerade-ausgelernt mit Alles-gehabt-alles-verloren mit Die-Geschäfte-laufen mit Noch-nie-gearbeitet mit Du-musst-ein-Schwein-sein mit Scheiß-Weiber-Scheiß-Politiker mit Ich-kenne-mich-aus-in-den-modernen-Zeiten mit Lass-mal-gut-sein-Alter.«
Die Unterschicht ist ein Individuum. Eine scheinbar vollkommen banale Einsicht, die aber für die Literatur von größter Bedeutung ist. Denn genau das unterscheidet die Literatur von der Wissenschaft, der Geschichte oder der Soziologie beispielsweise. Doch gerade der signalfixierte Pop und mit ihm verwandte Unterhaltungsliteratur à la Tommy Jaud beruht auf Typisierung. Dass sich Differenzierung nur im eigenen Milieu lohnt, dass die Unterschiede erst anfangen, wenn ein soziales Mindestniveau erreicht ist, gehört zu den klassischen Lebenslügen einer bestimmten Elite, denen Uslars Buch den Boden entzieht.
Unwillkürlich tritt der Roman in Konkurrenz zur Reportage oder zum Dokumentarfilm, wenn er sich soziale Wirklichkeit jenseits des Milieus des Autors vornimmt. Doch ist der Roman ein Allesfresser, der eine Menge Dokumentarisches und Historisches aufnehmen kann, ohne sich zu übergeben. Daher ist es auch müßig, etwa über die Gattung des uslarschen Buches zu streiten. Nichts verbietet die Lektüre als Roman und dann ist auch ein mögliches Abweichen im Detail gar kein wirkliches Problem. Entscheidend ist der Realitätseffekt dieser Prosa, die automatisch den Wettbewerb mit Magazingeschichten aufnimmt. Auch »Deutschboden« ist vielen Lesern zuerst als Vorabdruck im »Zeit-Magazin« bekannt geworden.
Was unsere deutschen Autoren dann trotz ihrer Fähigkeiten viel zu selten machen: sich mit der Kraft ihrer sprachlichen Beschreibung und Erzählung an Phänomene zu machen, die einen langen Atem brauchen, wie beispielsweise Jonathan Safran Foer mit seinem heftig diskutierten Großessay »Tiere essen« (2010), oder – ein Klassiker der Gattung – David Foster Wallace’ echt bittere und doch sehr lustige Kreuzfahrtreportage »Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich«, die 1997 im Original erschien. Benjamin von Stuckrad-Barre verkörpert diesen Typ literarischer Recherche inzwischen fast allein (mit Uslar natürlich), vielleicht weil dazu auch eine heftige Selbstüberschätzung der eigenen Wahrnehmung gehört. Doch möchte man allen Schreibschulen raten, die Studenten strenger zu solchen Begegnungen der dritten Art zu zwingen: Geht doch mal in eine Suppenküche oder verbringt ein paar Wochen in Kenia – statt der immer gleichen Villa Aurora (in Los Angeles) oder Massimo (in Rom). Was dabei rauskommt, können wir uns denken.
7.Ich heirate eine Familie: Ein Lob der Vater-Mutter-Kind-Literatur
Wer viel Gegenwartsliteratur liest, könnte leicht glauben, deutsche Schriftsteller hätten keine Kinder. Haben sie vielleicht wirklich keine? Etwa weil sie immer noch einem Bild vom Künstler als Anti-Bürger, als Bohemien nachhängen oder weil sie kein festes Einkommen zur Familiengründung haben oder weil sich niemand mit einem so launischen und komplizierten Büchermenschen einlassen will? Sollte man bei einer Partnerbörse »Schriftstellerei« vielleicht lieber nicht als Beruf angeben, sondern eher als Hobby? Doch kann ich für alle Jungautoren Entwarnung geben: Einer privaten empirischen Nachprüfung hält der vermeintliche Autorenkindermangel nämlich gar nicht stand.
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