Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
León.
»Da es unser Seil ist, kann ich damit machen, was ich will.«
Im gleichen Augenblick ertönten die unheimlichen Schreie, heiser, hohl und dumpf und sie waren nicht mehr allzu weit weg. Alle schauten in die Ferne, selbst Kathy war aufgesprungen. Bewegte sich dort nicht etwas am Horizont? León hoffte, dass es nur die flirrende Hitze war, die seinen Augen einen Streich spielte. Doch er wusste es besser, denn die Temperaturen waren in den letzten Minuten merklich gesunken. Dahinten flimmerte nicht die Luft, sondern ihre Verfolger kamen direkt auf sie zu.
»Wir haben keine Zeit für Diskussionen«, drängte er. »Was schlägst du also vor?«
»Jenna und ich klettern als Erste über die Schlucht. Wir beanspruchen zwei Tore.«
León bleckte die Zähne. »Niemals.« Er beugte sich vor, sodass nur noch Jeb ihn hörte. »Wir können um das Seil kämpfen, hier und jetzt. Wir sind fünf gegen zwei. Jenna ist verletzt und du kannst kaum noch stehen vor Erschöpfung.«
»Mag sein, dass ich gerade nicht in Bestform bin, aber es reicht noch, um einem oder zwei von euch den Schädel einzuschlagen.« Jeb schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor dem Körper.
Der tätowierte Junge sah ihn an, dann seufzte er. »Wir können euch keine zwei Tore geben, aber wir alle werden um die Tore losen. Keiner wird zurückgelassen oder betrogen, eine faire Chance für alle.«
Mischa, der bisher die Unterhaltung stumm verfolgt hatte, trat heran. »Was ist mit mir?«
»Was soll mit dir sein?«, fragte León harsch.
»Ich riskiere mein Leben, wenn ich durch die Schlucht klettere. Ich denke, dafür habe ich ein Tor verdient. Es kann nicht sein, dass ich euch alle rette und selbst zurückbleibe.«
»Keine Ausnahmen«, sagte León, obwohl er wusste, wie ungerecht das klang. »Aber du darfst als Erster ein Los ziehen, wenn die Chance noch am größten ist.«
Wieder ertönte ein Schreien. Es klang wie ein Klageschrei einer alten Frau. León lief ein Schauer über den Rücken. »Wir haben keine Zeit mehr, Jeb. Wir machen es so, wie du gesagt hast: Du und Jenna klettert zuerst rüber, wir folgen euch, dann losen wir. Okay?«
»Okay«, seufzte Jeb und auch alle anderen waren einverstanden. Bis auf Kathy, die ihnen einen wütenden Blick zuwarf, sich abrupt abwandte und wieder an den Rand der Schlucht trat.
Nachdem León noch einmal das Vorgehen erklärt hatte, stieß Tian aus: »Nur unter einer Bedingung. Ich will als Letzter gehen.«
»Als Letzter? Also gut. Nach Jenna und Jeb klettert Mary hinüber, dann folgen Kathy, ich selbst und zuletzt Tian. Ist das für alle akzeptabel?«
Die anderen nickten.
»Dann lasst uns loslegen. Jenna, gib mir dein Seil. Mischa, mach dich bereit. Lass alles bis auf deine Kleidung zurück, ich bringe deinen Rucksack mit. Klettere nicht zu schnell, geh kein Risiko ein, aber denk auch daran, wir haben nicht alle Zeit der Welt.«
»Überflüssig, das zu sagen«, entgegnete der blonde Junge.
León blickte zum Horizont, auf die dunklen Wolken, die der Sonne entgegenstürmten.
»Nein, das ist es nicht«, murmelte er.
28.
Das zusammengeknotete Seil war an einem Felsen festgebunden, aber noch nicht voll ausgerollt. Tian, Jeb und León hielten es fest in den Fäusten und ließen es langsam durch die Finger den Abgrund hinuntergleiten. Ihre Hände brannten, aber sie ignorierten den Schmerz. Sie mussten jetzt nur dafür sorgen, dass Mischa sicher den Grund der Schlucht erreichte, bevor er sich an den Aufstieg auf der anderen Seite machen konnte. Die Mädchen blickten angespannt in die Tiefe, doch Mischa war hinter einem Felsvorsprung verschwunden.
Da kam von unten ein schwacher Ruf. »Weiter.«
»Scheiße«, ächzte nun Tian. »Er sieht so dünn aus, aber wiegt gefühlt eine Tonne.«
»Würdest du lieber selbst am Seil hängen? Viele Meter über dem Abgrund?«, knurrte León. Als das Seil unkontrolliert zu rucken begann, griffen sie noch fester zu und stemmten die Füße in den Boden.
»Verdammt, was macht er da?«, fluchte Jeb.
»Verfluchter Mist.« Tians Atem kam nur noch gepresst.
Das Seil wackelte immer heftiger. Dann gab es einen starken Ruck, so als würde jemand daran ziehen, und das Seil rutschte durch ihre Hände. Zwei Meter Seil verschwanden in der Tiefe. Die Füße der drei schlitterten über den felsigen Boden auf den Abgrund zu, bevor es ihnen gelang, Halt zu finden und das Seil zu sichern.
Ihre Hände waren aufgerissen und bluteten. Der brennende Schmerz wurde
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