Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
spielte der Mann auf seiner Melodieflöte das Stück, wie ich es begonnen hatte, verkehrte dann plötzlich Höhen und Tiefen und nahm uns mit – wohin? Ich wußte es nicht, aber ich schaffte es irgendwie, die Reise mitzumachen. Der französische Tanz hatte gewissermaßen in einem satten grünen Tal begonnen; das Krummholz hatte uns aus dem Tal in eine weite Steppe geführt, und nun beschrieb die Sackpfeife einen wilden, einsamen Berghang.
Der Lautenspieler sagte etwas, als das Stück zu Ende war; ich sah die anderen grinsen und wappnete mich. Er spielte eine vertrackte Melodie mit merkwürdigen Tonsprüngen und Rhythmuswechseln – langsam, nachdrücklich, als wolle er sagen: Paß gut auf, gleich bist du dran. Dann spielte er das Stück schneller, und als er den zweiten Durchgang beendete, nickte er mir zu. Ich übernahm; wieder fielen nach und nach die anderen ein, und als wir fertig waren, klopfte mir der Krummholzspieler auf die Schulter.
So ging es weiter. Einer gab etwas vor, die anderen wiederholten, veränderten, beschleunigten. Irgendwann stand eine junge Frau hinter dem Sackpfeifer; er ließ die Baßpfeifen dröhnen und errichtete auf diesem Sockel ein luftiges Gebäude aus Tönen der Melodieflöte. Ich schlich mich mit der Fiedel leise ins Untergeschoß dieses Hauses, und die Frau begann zu singen. Sie hatte eine klare, warme Altstimme, die das Tongebäude von oben bis unten erkundete und ausfüllte. Ich verstand nicht, was sie sang, war nicht einmal sicher, daß es sich um kroatische Worte oder Verse handelte, aber alles fügte sich wunderbar zusammen, und ich genoß es.
Dann stand der Wirt neben uns und klatschte in die Hände. »Schluß für heute, Freunde«, rief er. »Die Nachbarn wollen schlafen.«
Die Sackpfeife quittierte die Anweisung mit einem trüben Quäken, aber alle gehorchten.
»Du klingst nach Rom, Valerio«, sagte ich.
Er nickte. »Und du – Venedig?«
»Ich habe die Sprache von einer schönen Venezianerin gelernt.«
»Die beste Art, eine Sprache zu lernen.« Er grinste. »Und vorher warst du stumm?«
»Vorher habe ich Deutsch gesprochen.«
Er verzog das Gesicht. »Ich habe Rom verlassen, als da nur noch Deutsch und Spanisch gesprochen wurde«, sagte er. »Seitdem mag ich beides nicht mehr so richtig.«
»Warst du beim Sacco?«
»Ich bin mühsam entkommen. Die ganze Familie nicht.«
»Und seitdem bist du hier?«
»Ich wollte nur noch weg aus Italien. Seit wann bist du hier?«
»Erst heute angekommen. Kann man in deinem Haus die Nacht verbringen?«
Er hob die Schultern. »Wenn man zahlen kann.«
Der Trommler hatte die letzten Sätze gehört und schüttelte den Kopf. »He, Fiedel«, sagte er, »bis du was besseres findest, kannst du bei uns schlafen.«
»Danke, Bruder – aber wer ist ›uns‹?«
»Na, wir.« Er lachte. »Ein halbverfallenes Haus, nicht weit von der Straße nach Gruz, gerade richtig für Fiedler, Trommler und anderes Gelichter.«
Tatsächlich war das Haus gar nicht so verfallen, nur etwas heruntergekommen. Es gab einen kleinen Hinterhof mit gemauertem Brunnen, daneben einen unordentlichen Haufen Feuerholz. Die Treppe zum Obergeschoß hatte kein Geländer, schien aber noch eine Weile alle Lasten tragen zu wollen. In der Küche stand ein Eisenherd; im Haus verteilt gab es ein paar Tische und Stühle, ansonsten Strohmatten, strohgefüllte Matratzen und allerlei Geschirr. Hinter dem Hof, ein paar Schritte den wüsten Hang hinab, hatte jemand eine Grube für Abfälle und jene Ausscheidungen angelegt, die mit Bottichen dorthin zu befördern waren.
Abgesehen von der Küche gab es unten drei und oben vier Zimmer. Türen schien der Erbauer des Hauses für sinnlosen Überfluß gehalten zu haben. Es mochte aber auch sein, daß man sie im Winter verfeuert hatte.
Zwei der oberen Zimmer waren leer oder frei; eines davon durfte ich mir aussuchen. Dank meiner Fiedel und ihrer Fähigkeit – oder der meiner Finger und Ohren –, sich ungewohnten Läufen und Intervallen anzupassen, war ich vorläufig und ohne weitere Fragen in die Bruderschaft der Musikanten aufgenommen. Der auch die Sängerin angehörte, Ardiana. Sie kam aus den albanischen Bergen; von dort stammte auch das Lied, das sie gesungen hatte und dessen Wörter mir vollkommen unverständlich gewesen waren.
Da wir nachts noch eine Weile geredet hatten, stand die Sonne weit früher auf als wir. Es war bereits mittlerer Vormittag, als ich den Weg treppab in die Küche fand. Dort saßen Ardiana und der
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