Das Labyrinth
bleib dann da, bis ich komme.«
»Warum gehen wir nicht zusammen und du rufst an?«
»Ich bin in einer Minute bei dir. Laß es läuten, bis er sich meldet. Manchmal nimmt er nicht sofort ab.«
Irina widersprach nicht. Sie zog sich den Rock an und ging barfuß in die Diele. Das helle Licht blendete sie.
Unten fuhr wieder der weiße Mercedes vorbei, und gleichzeitig hörte Arkadi das Orgeln des Daimlers von Max, bevor er ihn aus der entgegengesetzten Richtung kommen sah. Max und Borja machten Jagd auf ihn, aber sie mußten sich auch vor den Tschetschenen verbergen. Max würde heraufkommen, doch Irina hatte recht, er würde ihr nichts antun.
Die beiden Wagen fuhren aneinander vorbei und entfernten sich wieder.
In ein paar Jahren, wenn die Aus- und Umbauten erst einmal fertig waren, würde die Friedrichstraße zu einer normal pulsierenden Arterie werden, mit Kaufhäusern, Hamburger-Restaurants und Espressobars. Arkadi hatte das Gefühl, den Blick über die letzte Ruhestätte des alten Ost-Berlin schweifen zu lassen.
Die zwei Wagen mußten den Block umrundet haben, denn sie tauchten beide wieder von derselben Seite auf. Der weiße Mercedes hielt auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, Max bog in die Garage des Gebäudes.
Es gab nicht viel Schutz in einem unmöblierten Zimmer. Arkadi stellte seine Tasche direkt vor den Eingang, so daß sie jedem, der die Tür öffnete, als erstes ins Auge fallen mußte. Er selbst legte sich am anderen Ende des Raumes mit dem Gesicht zur Tür auf den Boden, um eine möglichst kleine Angriffsfläche zu bieten. Er hörte, wie der Aufzug betätigt wurde. Er bezweifelte, daß Max allein kommen würde. Die Kristalleuchten im Aufzug waren hell. Arkadi hoffte, daß Max’ Augen sich nicht so schnell an die Dunkelheit des Zimmers gewöhnen würden.
Die Maschinenpistole hatte eine zusammenklappbare Schulterstütze, die Arkadi in Stellung brachte. Er entsicherte die Waffe und stellte den Hebel auf »vollautomatisch«. Die drei zusätzlichen Magazine legte er wie Trumpfkarten vor sich auf den Boden. Das Licht auf dem Flur zeichnete sich als Rechteck im Türrahmen ab. Die Tür in diesem Rechteck schien zu vibrieren.
Der Aufzug hielt an. Er hörte, wie sich die Türen aufschoben, um sich, nach einer kurzen Weile, wieder zu schließen. Der Aufzug fuhr weiter zum sechsten Stock.
Es klopfte. Irina trat ein und schloß die Tür hinter sich. Ihr Blick fand Arkadi. »Ich wußte, daß du nicht nach oben kommen würdest.«
»Hast du angerufen?«
»Ein Anrufbeantworter. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«
»Du verpaßt Max«, sagte Arkadi. »Er ist gerade gekommen.«
»Ich weiß. Ich habe die Treppe benutzt. Versuch nicht, mich ohne dich gehen zu lassen. Das habe ich schon einmal getan, und es war ein Fehler.«
Arkadi wandte den Blick nicht von der Tür. Max ist vielleicht überrascht, Irina nicht vorzufinden, dachte er. Er wird sie suchen. Aber der Aufzug war jetzt schon seit zehn Minuten im sechsten Stock, länger als für jede Suche nötig war - falls Max nicht heimlich den Weg über die Treppe genommen hatte. Als sich der Aufzug dann endlich wieder in Bewegung setzte, fuhr er, ohne zu halten, nach unten. Einige Sekunden später sagte Irina, daß Max die Tiefgarage verlassen und sich der weiße Mercedes an ihn gehängt habe.
»Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, mit wem du wohl Zusammensein könntest«, sagte Irina. »Aus irgendeinem Grund habe ich dabei immer eine sehr junge Frau gesehen. Groß und dunkelhaarig, klug, leidenschaftlich. Ich dachte an die Orte, an denen ihr zusammen Spazierengehen, worüber ihr euch unterhalten würdet. Wenn ich mich besonders quälen wollte, stellte ich mir einen Tag am Strand vor - Liegestühle, Sand, Sonnenbrillen und Wellenrauschen. Sie stellt ein Radio an und sucht die Sender ab, um sich von romantischer Musik einhüllen zu lassen, bis sie plötzlich meine Stimme hört. Sie hält einen Augenblick inne, überrascht, einen russischen Sender zu empfangen. Schließlich sucht sie weiter, und du läßt sie gewähren, sagst kein Wort. Dann hab ich mir meine Rache vorgestellt: Sie erhält die Erlaubnis, nach Deutschland zu reisen. Durch Zufall sitzen wir beide im selben Zugabteil, und da es eine lange Fahrt ist, kommen wir ins Gespräch, und ich begreife natürlich, wer sie ist. Gewöhnlich endet es damit, daß wir auf einem Felsvorsprung in den Alpen stehen. Sie ist eine nette Frau. Doch ich stoße sie in die Tiefe, weil sie meinen Platz
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