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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Lebensmittelgeschäft an der Ecke zu. Geschlossen, natürlich. Er konnte entweder seinem Beruf nachgehen oder essen, eine dritte Möglichkeit schien es nicht zu geben. Kaum ein Trost, daß er das letzte Mal, als er es geschafft hatte, zum Markt zu gehen, nur die Wahl zwischen Rinderkopf und Rinderhufen gehabt hatte. Nichts dazwischen, als ob der Körper des Tieres in einem schwarzen Loch verschwunden gewesen wäre.
    Der Zugang zum Haus war nur möglich, wenn man der Sicherheitsanlage eine bestimmte Nummernfolge eingab, die jemand entgegenkommenderweise gleich neben die Tür geschrieben hatte. Die Briefkästen im Hausflur waren geschwärzt, da Vandalen Zeitungen in die Schlitze gesteckt und angezündet hatten. Auf dem zweiten Stockwerk blieb er vor der Tür einer Nachbarin stehen, um seine Post abzuholen. Veronika Iwanowna, mit den leuchtenden Augen eines Kindes und den wirren grauen Haaren einer Hexe, war diejenige im Haus, die so etwas wie die Funktion eines Hausmeisters ausübte.
    »Zwei persönliche Briefe und eine Telefonrechnung.« Sie gab sie ihm. »Ich konnte keine Lebensmittel für Sie einkaufen, da Sie vergessen haben, mir Ihren Bezugsschein dazulassen.«
    Ihre Wohnung wurde vom bläulichen Schein eines Fernsehers erhellt. Anscheinend hatten sich alle alten Leute des Hauses auf Stühlen und Sesseln rund um die Mattscheibe niedergelassen, um mit geschlossenen Augen der beruhigenden Stimme eines grauen, professoralen Gesichts zu lauschen, die wie eine Welle durch die geöffnete Tür drang.
    »Ihr seid müde. Jeder ist müde. Ihr seid verwirrt. Jeder ist verwirrt. Wir leben in schweren Zeiten, Zeiten der Not. Aber dieses ist die Stunde der Heilung, um wieder mit den natürlichen, positiven Kräften, die euch umgeben, in Verbindung zu treten. Macht sie euch bewußt. Laßt eure Müdigkeit durch die Fingerspitzen abfließen, und dafür die positiven Kräfte wieder in euch einkehren.«
    »Ein Hypnotiseur?« fragte Arkadi.
    »Nun hören Sie mal. Es ist das beliebteste Fernsehprogramm.«
    »Also, ich bin müde und verwirrt«, gab Arkadi zu.
    Arkadis Nachbarn lehnten sich in ihren Stühlen zurück, wie erwärmt von der strahlenden Hitze eines Kamins. Es war der schmale Bart von Ohr zu Ohr, der dem Hypnotiseur sein seriöses, akademisches Aussehen gab. Der Bart und die dicken Brillengläser, die seine Augen vergrößerten, intensiv und ohne Lidschlag wie die einer Ikone. »Öffnet und entspannt euch. Reinigt euren Geist von alten Dogmen und Ängsten, denn sie bestehen nur in eurem Geist. Denkt daran: Das Universum will euch durchwirken.«
    »Ich habe auf der Straße einen Kristall gekauft«, sagte Veronika. »Seine Leute bieten sie überall an. Man legt den Kristall auf den Fernseher, und dann bündelt er die Ausstrahlung, die von seinem Bild ausgeht, wie ein Leuchtfeuer. Er verstärkt die Strahlen.«
    Tatsächlich sah Arkadi eine Reihe von Kristallen auf dem Gerät.
    »Halten Sie es für ein schlechtes Zeichen, daß es einfacher ist, einen Stein zu kaufen als etwas zu essen?« fragte er.
    »Sie finden nur Schlechtes, wenn Sie danach suchen.«
    »Das ist das Problem. In meinem Beruf tue ich das ständig.«
     
    Arkadi nahm eine Gurke, Joghurt und trockenes Brot aus dem Kühlschrank, stellte sich ans offene Fenster, sah nach Süden über die Kirche auf den Fluß und begann zu essen. Das Viertel, in dem er wohnte, besaß noch alte Gassen, die über wirkliche Hügel hinwegführten. Ein schmaler Fußweg wurde halb von der Kirche verdeckt. Hinter den Häusern lagen kleine Höfe, in denen man früher Milchkühe und Ziegen gehalten hatte. Es waren die neueren Teile der Stadt, die verlassen wirkten. Die Neonreklamen über den Fabriken waren halb dunkel, halb erleuchtet und meist unlesbar. Der Fluß selbst schien unbewegt und schwarz wie Asphalt.
    Arkadis Wohnzimmer hatte einen Tisch mit emaillierter Platte, auf der eine Kaffeekanne mit Gänseblümchen stand, einen Lehnstuhl, eine gute Messinglampe und so viele Bücherregale, daß der Raum von einer Wand von Büchern umgeben schien, einem Paperback-Bollwerk, das nicht nur die Achmatowa und Soschenko, den Humoristen, enthielt, sondern auch die Makarow, seine Neun-Millimeter-Pistole, die er hinter Pasternaks Macbeth-Übersetzung versteckt hielt.
    In der Diele gab es eine Dusche und ein WC und dahinter ein Schlafzimmer mit weiteren Büchern. Das Bett war gemacht, das zumindest konnte er sich zugute halten. Auf dem Fußboden stand ein Kassettengerät neben einem Aschenbecher und

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