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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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hätte in Depressionen verfallen müssen, aber Arkadi sah auf die Uhr. Er stand auf, sammelte seine Zigaretten ein und trank den nächsten Wodka ohne Saft. Die Programmlücke zwischen den Nachrichtensendungen wurde ausgefüllt durch einen Bericht über das Verschwinden des Aralsees. Die Bewässerung usbekischer Baumwollfelder hatte die Zuflüsse des Sees austrocknen lassen, so daß Tausende von Fischerbooten und Millionen von Fischen im Schlamm steckenblieben. Wie viele Länder konnten schon von sich behaupten, einen riesigen See vom Angesicht der Erde getilgt zu haben? Arkadi ging zum Waschbecken, um neues Wasser für die Gänseblümchen zu holen.
    Zur halben Stunde gab es nur einen Nachrichtenüberblick von einer Minute. Arkadi lauschte dem Gezwitscher belorussischer Volkslieder, bis zur vollen Stunde die nächste zehnminütige Nachrichtensendung begann. Der Inhalt hatte sich nicht verändert, es war die Stimme, die ihn faszinierte. Er legte seine Uhr auf den Tisch. Ihm fiel auf, daß seine Vorhänge aus Spitze waren. Natürlich wußte er, daß er Vorhänge an den Fenstern hatte, aber ein Mann vergißt derlei Feinheiten schnell und wird sich ihrer erst wieder bewußt, wenn er sich einmal ruhig hinsetzt. Maschinell hergestellt, natürlich, aber hübsch, mit einem Blumenmuster, das sich blaß gegen den Himmel draußen abzeichnete.
    »Hier ist Irina Asanowa mit den Nachrichten«, sagte sie.
    Sie hatte also nicht wieder geheiratet oder jedenfalls ihren Namen beibehalten. Und ihre Stimme war voller und schärfer geworden, nicht mehr die eines Mädchens. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie über ein schneebedecktes Feld gelaufen und hatte zugleich gehen und bleiben wollen. Er hatte ihre Stimme so häufig gehört seit jenem ersten Verhör, als er befürchten mußte, sie sei gefaßt worden, später in psychiatrischen Anstalten, wo seine Erinnerung an sie der Grund seiner Behandlung war. Als er in Sibirien arbeitete, hatte er sich manchmal gefragt, ob sie noch lebte, überhaupt je gelebt hatte oder nur eine Illusion war. Er glaubte, daß er sie nie wieder sehen oder hören würde. Und doch hatte er immer erwartet, ihr Gesicht an der nächsten Ecke auftauchen zu sehen oder ihre Stimme am anderen Ende eines Raumes zu hören. Wie ein Mann mit krankem Herzen hatte er jeden Augenblick darauf gewartet, daß es aufhörte zu schlagen. Ihre Stimme klang gut, sie tat ihm wohl.
    Gegen Mitternacht, als sich das Programm zu wiederholen begann, schaltete er das Radio ab. Er rauchte eine letzte Zigarette am Fenster. Der Kirchturm leuchtete wie eine goldene Flamme unter dem grauen Bogen der Nacht.
     
    Das Museum hatte die niedrige Decke und die bedrückende Atmosphäre einer Katakombe. Unbeleuchtete Dioramen reihten sich entlang der Wände wie verlassene Kapellen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saales standen, anstelle eines Altars, offene Kisten mit verwitterten Platten und staubigen Fliesen.
    Arkadi dachte daran, wie er vor zwanzig Jahren hiergewesen war, an die umschatteten Augen und die Grabesstimme   des   ältlichen   Museumsführers, eines Hauptmanns, dessen einzige Aufgabe darin bestand, den Besuchern die glorreiche Vergangenheit und heilige Mission der Miliz nahezubringen. Er versuchte, das Licht in einem der Schaukästen anzuknipsen. Nichts.
    Der nächste Schalter funktionierte und erleuchtete eine verkleinerte Moskauer Straße um 1930 mit den wie Leichenwagen aussehenden Autos jener Zeit. Modellierte Männergestalten schritten gewichtig über die Szene, Frauen schlurften mit Einkaufstaschen einher, Jungen versteckten sich hinter Laternen - alle offensichtlich ihren normalen Beschäftigungen nachgehend, bis auf eine an einer Ecke lauernde Figur, die den Mantelkragen bis zur Hutkrempe hochgeschlagen hatte.
    »Könnt ihr den Geheimagenten finden?« hatte der Hauptmann stolz gefragt.
    Der jüngere Arkadi war mit den anderen Jungen seiner Klasse hergekommen, einer Bande kichernder Heuchler.
    »Nein«, antworteten sie im Chor mit unbewegten Gesichtern, wobei sie sich gegenseitig heimlich zublinzelten.
    Zwei weitere vergebliche Versuche, Licht zu schaffen, dann die Szene eines Mannes, der sich in ein Haus einschleicht und nach einem in der Diele hängenden Mantel greift. Im angrenzenden Wohnzimmer eine Gipsfamilie, gemütlich vor dem Radio sitzend. Der Erläuterungstext teilte mit, daß dieser »Meisterdieb« bei seiner Festnahme tausend Mäntel besaß. Ein Reichtum, wie man ihn sich kaum vorstellen

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