Das Labyrinth
kümmern. Ich wette, die Mine war für Borja bestimmt.«
Polina hatte ihren Mantel nicht abgelegt. Jetzt stand sie auf und knöpfte ihn mit schnellen Bewegungen zu, die zugleich Entschlossenheit und Widerwillen zum Ausdruck brachten.
»Die Mine in der Schachtel war für Sie bestimmt und die Bombe im Auto wahrscheinlich auch«, sagte sie zu Arkadi.
»Nein«, sagte er und wollte ihr gerade erklären, wie unsinnig ihre Vermutung war, als sie bereits durch die Tür verschwand. Arkadi drückte die Belomor aus und blickte seine beiden Kollegen an. »Es ist spät geworden, Kinder. Das ist genug für heute.«
Minin erhob sich widerwillig. »Ich sehe immer noch nicht ein, warum wir einen Milizionär in Rosens Wohnung postieren müssen.«
»Wir wollen, daß alles für eine Weile so bleibt, wie es ist«, sagte Arkadi, »und wir haben schließlich einige Wertgegenstände dort zurückgelassen.«
»Die Anzüge, den Fernseher und das Rechnungsbuch?«
»Ich habe an die Lebensmittel gedacht, Genosse Minin.«
Minin war das einzige Parteimitglied in der Mannschaft. Arkadi redete ihn gelegentlich mit »Genosse« an, wie man einem Schwein Küchenabfälle hinwirft.
Manchmal hatte Arkadi das Gefühl, daß Gott während seiner Abwesenheit Moskau vom Boden hoch genommen und umgekehrt wieder hingestellt hatte. Es war ein Unterwelts-Moskau, nicht länger unter der grauen Hand der Partei. Mit Buntstiften kenntlich gemacht, zeigte die Wandkarte eine neue, wesentlich farbigere Stadt.
Rot zum Beispiel stand für die Mafia aus Ljubertsi, einem Arbeitervorort im Osten Moskaus. Kim war insofern ungewöhnlich, als er Koreaner war, doch sonst war er typisch für die Jungs, die dort aufwuchsen. Die Ljuber waren die Enteigneten, die Burschen ohne Eliteschulen, akademische Diplome und Parteiverbindungen. In den letzten fünf Jahren waren sie aus den Metroschächten der Stadt aufgetaucht, hatten zuerst die Punker angegriffen und dann angefangen, Prostituierte, Schwarzmärkte und Regierungsbüros zu beschützen. Rote Kreise zeigten ihre Einflußsphären: den Touristenkomplex am Ismailowo-Park, den Domodedowo-Flughafen und die Schabalowka-Straße mit ihren Videohändlern, die zwar von einem jüdischen Clan beherrscht wurde, aber der holte sich seine Schläger aus Ljubertsi.
Blau markierte die Mafia des Langen Teichs, eines nördlichen Vororts mit heruntergekommenen Mietskasernen. Die blauen Kreise verdeutlichten ihr Interesse an den aus dem Scheremetjewo-Flughafen gestohlenen Gütern und den im Minsk-Hotel arbeitenden Prostituierten, doch vor allem handelte die Mafia des Langen Teichs mit Autoteilen. Auch das Werk, in dem der Moskwitsch hergestellt wurde, befand sich in einem blauen Kreis. Borja Gubenko war mittlerweile nicht nur an die Spitze des Langen Teichs aufgestiegen, sondern hatte auch Ljubertsi unter seine Herrschaft gebracht.
Islamisches Grün stand für die Tschetschenen, Moslems aus dem Kaukasus. Etwa tausend von ihnen lebten in Moskau, ständig verstärkt durch Neuankömmlinge, die in ganzen Wagenkolonnen eintrafen. Sie alle gehorchten den Befehlen eines Stammesführers namens Mahmud. Die Tschetschenen waren die Sizilianer der Sowjet-Mafias.
Das königliche Purpurrot blieb der Moskauer Baumanskaja-Mafia vorbehalten, die aus der Gegend zwischen dem Lefortowo-Gefängnis und der Epiphanias-Patriarchats-Kathedrale kam. Sie wickelte ihre Geschäfte vornehmlich auf dem Rischski-Markt ab.
Und schließlich gab es noch das Braun für die Jungs aus Kasan, eher eine Bande ehrgeiziger kleiner Räuber und Taschendiebe als eine organisierte Mafia. Sie überfielen Restaurants auf dem Arbat, handelten mit Drogen und schickten Minderjährige auf den Strich.
Rudi Rosen war ihrer aller Bank gewesen. Allein dadurch, daß er Rudis Audi überallhin gefolgt war, war es Arkadi gelungen, dieses Bild des helleren und dunkleren Moskau zu zeichnen. An sechs Vormittagen der Woche, montags bis samstags, war Rudi einem festen Tagesplan gefolgt. Eine morgendliche Fahrt zu einem von Borja geleiteten Badehaus im nördlichen Teil der Stadt, dann ein Ausflug mit Borja, um Gebäck am Ismailowo-Park einzukaufen und die Ljuber zu treffen. Später ein Morgenkaffee im National Hotel mit Rudis Baumanskaja-Kontaktmann. Nicht selten ein Mittagessen mit seinem Feind Mahmud im Usbekistan. Die Runde eines modernen Geschäftsmanns, stets begleitet von Kim, der ihm wie ein treuer Hund auf dem Motorrad folgte.
Der Abend draußen war noch hell. Arkadi war
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