Das Labyrinth
der ernste, von der Schwere der Verantwortung gezeichnete Blick, unbestimmt und bestimmt zugleich.
»Der Sarg war natürlich geschlossen«, murmelte Below.
Arkadis Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, denn in entgegengesetzter Richtung bewegte sich auf einem Parallelweg eine andere, längere Prozession mit einem leeren Leichenwagen, einer größeren Batterie Hörner und Tuben und einigen bekannten Gesichtern unter den Trauernden. General Penjagin und Rodionow, der Oberstaatsanwalt, beide mit einem schwarzen Band am Ärmel, stützten von links und rechts eine tief verschleierte Frau. Arkadi erinnerte sich, daß Penjagins Vorgänger im Kriminalamt erst vor wenigen Tagen gestorben war, die Frau an seiner Seite war vermutlich die Witwe des Verstorbenen. Ein Zug von Angehörigen der Miliz, Parteifunktionären und Verwandten folgte ihnen, Langeweile und Trauer auf den unbewegten Gesichtern. Keiner von ihnen bemerkte Arkadi.
Seine eigene Prozession war inzwischen in eine von zottigen Kiefern gesäumte Allee eingebogen und blieb vor einem frisch ausgehobenen Grab stehen. Arkadi blickte sich um und schloß Bekanntschaft mit den neuen Nachbarn seines Vaters. Hier stand die Statue eines Sängers, der in Granit gemeißelter Musik lauschte. Dort schulterte ein Sportler mit bronzenen Muskeln einen eisernen Speer. Hinter den Bäumen rauchten Totengräber, auf ihre Schaufeln gestützt, eine Zigarette. Neben dem offenen Grab lag, fast bündig mit dem Erdboden, eine schmale weiße Marmortafel. Raum war knapp auf dem Wagankowskoje-Friedhof, und manchmal wurden Eheleute übereinandergelegt, diesmal jedoch, Gott sei Dank, nicht.
Die Generäle nahmen neben dem Grab Aufstellung, und Arkadi erkannte die vier wieder, die er auf dem Roten Platz gesehen hatte. Schuksin, Iwanow, Kusnetsow und Gul sahen im Tageslicht noch kleiner aus, als wären die Männer, die er als Kind so gefürchtet und gehaßt hatte, auf magische Weise zu Käfern geschrumpft, mit Rückenpanzern aus grüner Serge und goldenem Brokat, die eingesunkenen Brustkörbe nur noch gestützt durch Medaillen, Rangabzeichen und Orden, ein blendendes Glitzern von Schnüren, Messingsternen und emailliertem Blech. Sie alle weinten bittere Wodkatränen.
»Kameraden!« Iwanow entfaltete ein Stück Papier und begann vorzulesen. »Heute verabschieden wir uns von einem großen Russen, einem Freund des Friedens, der dennoch mit eisernem Willen .«
Arkadi war immer wieder überrascht über das Vertrauen, das Menschen Lügen entgegenbrachten. Als hätten allein die Worte ausreichend Beziehung zur Wahrheit. Diese Veteranen waren nichts anderes als kleine Schlächter, die einem großen Schlächter ein rührseliges Lebewohl zuriefen, und ohne die Arthritis in ihren Gelenken würden sie noch heute das Messer zücken wie in den glorreichen Tagen ihrer Jugend.
Als Schuksin Iwanow ablöste, hatte Arkadi den Wunsch, selbst eine Zigarette zu rauchen und eine Schaufel in die Hand zu nehmen.
»>Nicht einen Schritt zurück!< hatte Stalin befohlen. Ja, Stalin. Sein Name ist mir immer noch heilig .«
»Stalins Lieblingsgeneral« war sein Vater genannt worden. Als sie eingeschlossen waren und keine Lebensmittel und keine Munition mehr hatten, wagten andere Generäle, sich mit ihren Männern zu ergeben. General Renko ergab sich niemals, er hätte sich nicht einmal ergeben, hätten nur noch Tote seinem Befehl gehorcht. Er war nie in die Hände der Deutschen gefallen. Er durchbrach die feindlichen Linien, um sich den Verteidigungskräften rund um Moskau anzuschließen, und ein berühmtes Foto zeigte ihn mit Stalin höchstpersönlich, über eine Karte gebeugt, um Truppenverlegungen von einem Standort zum anderen zu planen, wie zwei Teufel, die die Hölle verteidigten.
Der füllige Kusnetsow trat an das Grab. »Heute, wo jeder versucht, unsere glorreiche Armee zu verleumden .«
Ihre Stimmen hatten den hohlen Tremor zerborstener Celli. Arkadi hätte Mitleid gehabt, hätte er sich nicht erinnert, wie sie als Schatten seines Vaters in die Datscha zu stürmen pflegten, um sich zum Abendessen zu versammeln und später betrunken Lieder anzustimmen, die stets mit einem brüllenden »Hurrrrrahhhhh!«, dem Siegesruf der Armee, endeten.
Arkadi war sich nicht sicher, weshalb er gekommen war. Vielleicht Belows wegen, der die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn nie aufgegeben hatte. Vielleicht wegen seiner Mutter. Sie würde Seite an Seite mit ihrem eigenen Mörder liegen. Er trat vor, um Schmutz von
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