Das Labyrinth
der weißen Marmortafel zu entfernen.
»Sowjetische Macht, errichtet auf dem heiligen Altar von zwanzig Millionen Toten .«, dröhnte Kusnetsow.
Nein, nicht in Käfer verwandelt, dachte Arkadi. Das wäre zu freundlich, zu kafkaesk. Eher wie ergraute, dreibeinige Hunde, senil, aber tollwütig vor der offenen Grube jaulend.
Gul schwankte unter seinem grünen, mit Medaillen überfrachteten Uniformrock, der ihm schlotternd an den Knochen hing. Er nahm seine Mütze ab und entblößte aschefarbenes Haar. »Ich rufe mir die letzte Begegnung mit K.I. Renko vor wenigen Tagen in die Erinnerung.« Gul legte seine Hand auf den dunklen Holzsarg mit den Messinggriffen, dürr wie ein Skelett. »Wir gedachten unserer Waffenbrüder, deren Opfertod wie eine ewige Flamme in unseren Herzen brennt. Wir sprachen über die heutige Zeit mit ihren Zweifeln und Selbstkasteiungen, die so anders ist als unsere eherne Entschlossenheit damals. Ich gebe Ihnen jetzt die Worte wieder, die der General mir bei dieser Begegnung sagte. >Denjenigen, die die Partei mit Schmutz bewerfen. Denjenigen, die die historischen Sünden der Juden vergessen. Denjenigen, die unsere revolutionäre Geschichte verfälschen, unser Volk erniedrigen und verunglimpfen. Ihnen allen rufe ich zu: Mein Banner war und wird immer rot sein!<«
»Mehr vertrage ich nicht«, sagte Arkadi zu Below und wandte sich zum Gehen.
»Es ist noch nicht zu Ende.« Below folgte ihm.
»Deswegen gehe ich ja.« Gul schwadronierte weiter.
»Wir haben gehofft, daß du ein paar Worte sagen würdest, jetzt, wo er tot ist.«
»Boris Sergejewitsch, wenn ich die Ermittlungen nach dem Tod meiner Mutter geführt hätte, hätte ich meinen Vater verhaftet. Ich hätte ihn mit Vergnügen umgebracht.«
»Arkascha .«
»Schon die Vorstellung, daß dieses Ungeheuer friedlich in seinem Bett gestorben ist, wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen.«
Belows Stimme wurde leise. »Er ist nicht friedlich in seinem Bett gestorben.«
Arkadi blieb stehen. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Du hast gesagt, der Sarg sei geschlossen gewesen. Warum?«
Below atmete schwer. »Zuletzt waren die Schmerzen so groß. Er sagte, das einzige, was ihn noch zusammenhalte, sei der Krebs. Er wollte so nicht sterben. Er sagte, er wolle wie ein Offizier aus dem Leben scheiden.«
»Er hat sich erschossen?«
»Vergib mir. Ich war im Nebenzimmer. Ich .«
Als Belows Knie nachgaben, führte ihn Arkadi zu einer Bank. Er kam sich unglaublich dumm vor: Er hätte sehen müssen, was sich auf dem Gesicht des alten Mannes abgezeichnet hatte. Below vergrub eine Hand in seiner Jacke, tastete umher und gab Arkadi eine Schußwaffe. Es war ein schwarzer Nagant-Revolver mit vier Kugeln, poliert wie altes Silber. »Er wollte, daß du ihn bekommst.«
»Der General hatte immer schon Sinn für Humor«, sagte Arkadi.
Eine rege Geschäftstätigkeit hatte sich an einem Kiosk neben Wisotskis Grab entwickelt, als Arkadi das Friedhofstor erreichte. Jetzt, wo seine Sonne untergegangen war, kauften die Fans Anstecknadeln, Poster, Postkarten und Kassetten des Sängers, der vor zehn Jahren gestorben und mittlerweile populärer war als je zuvor. Die Straßenbahn Nummer 23 hielt auf der anderen Straßenseite - das praktischste Souvenir, das Moskau besaß. Neben dem Tor standen Bettler, Bäuerinnen mit weißen Kopftüchern und sonnengebräunten Gesichtern und beinamputierte Männer mit Rollwagen und Krücken. Sie alle scharten sich um die Gläubigen, die die kleine gelbe Kirche des Friedhofs verließen. Mit schwarzen Kreppbändern versehene Sargdeckel und Kränze aus scharf riechenden Tannenzweigen und Nelken lehnten an der Kirchenmauer. Seminaristen verkauften an einem Spieltisch Bibeln, das Neue Testament für vierzig Rubel.
Arkadi, den Revolver seines Vaters in der Tasche, fühlte sich leicht benommen, und es fiel ihm schwer, die Dinge in angemessener Weise voneinander zu unterscheiden. Ebenso deutlich, wie er die Zeremonien menschlichen Schmerzes wahrnahm - eine Witwe, die das Foto in einem Grabstein liebevoll mit einem Taschentuch abwischte -, sah er auch ein Rotkehlchen, das neben einem Grab einen Wurm aus der Erde zog. Er vermochte sich nicht zu konzentrieren. Ein Autobus hielt hinter dem Tor, und eine trauernde Familie kletterte aus der vorderen Tür. Hinten wurde ein Sarg herausgeschoben, geriet ins Rutschen und schlug krachend auf dem Boden auf. Ein Mädchen der Familie verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse. Arkadi hatte den
Weitere Kostenlose Bücher