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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Wunsch, es ihr nachzutun. Vor dem Tor stand immer noch die Rodionow-Penjagin-Gruppe auf dem Bürgersteig. Arkadi fühlte sich nicht in der Lage, mit dem Oberstaatsanwalt oder dem General zu sprechen, und so schlüpfte er in die Kirche.
    Innen hielt sich eine Gemeinde von Gläubigen, Trauernden und Trostsuchenden auf. Alle standen, es gab keine Kirchenbänke. Die Atmosphäre glich der einer überfüllten, bunten Bahnhofshalle. Weihrauch statt Zigarettenrauch, und statt des Lautsprechers ein unsichtbarer Chor, dessen Stimmen unter der hohen Decke widerhallten und die vom Lamm Gottes sangen. Ikonen - byzantinische, vom Alter gedunkelte Gesichter über silbrig schimmernden Gewändern - hingen an den Wänden wie Seiten eines illuminierten Manuskripts. Die Kerzen davor waren Dochte, die in ölgefüllten Glasgefäßen schwammen. Um die Flammen nicht ausgehen zu lassen, standen Ölkannen auf dem Boden. Es gab Votivkerzen in verschiedenen Größen: zu dreißig Kopeken, fünfzig Kopeken und einem Rubel. Die Kerzenständer leuchteten wie sanft brennende Bäume. Lenin hatte die Religion als eine hypnotische, nach einem Grund suchende Flamme beschrieben. Frauen in Schwarz sammelten Spenden. Links gab es in einem Laden Postkarten mit Bildern wunderwirkender Reliquien. Rechts lagen drei Frauen, ebenfalls in schwarzen Kleidern und Schals, die Hände auf der Brust gekreuzt, in offenen Särgen, umgeben von tropfenden Kerzen auf gußeisernen Armen.
    In einer Kapelle neben den Särgen brachte ein Priester einem Jungen bei, wie man sich verbeugte, indem er seinen Kopf niederdrückte; dann leitete er ihn an, sich auf orthodoxe Weise mit drei statt mit zwei Fingern zu bekreuzigen. Arkadi wurde durch den bloßen Druck der vielen Körper in die »Teufelsecke« gedrängt, wo einem die Beichte abgenommen wurde. Ein Priester in einem Rollstuhl sah erwartungsvoll zu ihm hoch, sein langer Bart weiß wie die Strahlen des Mondes. Arkadi kam sich wie ein Eindringling vor, da sein Unglaube nicht institutioneller Art war, sondern die Wut eines Sohnes, der absichtlich und zornig das Lager seines Vaters verlassen hatte. Doch sein Vater war nicht gläubig gewesen, es war seine Mutter, die heimlich wie ein Vogel in die wenigen Kirchen geflattert war, die in Stalins Moskau noch offenstanden. Kopeken fielen. Wachs tropfte. Die Spendenteller gingen unter den Gläubigen von Hand zu Hand, während sich eine mächtige Musik entfaltete, Diskant auf Diskant türmte und den Allmächtigen anrief: »Höre uns und behüte uns.« Nein, dachte Arkadi. Besser wäre es, darum zu bitten, daß Er taub und blind sei. Die Stimmen flehten: »Und sei uns gnädig, gnädig, gnädig.« Gnade war zumindest das, was der General am wenigsten gewollt hatte.
     
    Arkadi bog in die Gorki-Straße ein, stellte das Blaulicht aufs Wagendach, schaltete die Sirene ein und raste über die mittlere Spur, während Verkehrspolizisten in ihrem Ölzeug und mit ihren weißen Stäben wie lebende Signalmasten den Weg für ihn freimachten. Der Regen hatte wieder eingesetzt, fegte in Böen über die Straße und ließ Schirme mit Blumenmustern über dem Bürgersteig aufsteigen. Arkadi hatte kein bestimmtes Ziel. Es waren die verwaschenen Tropfen auf der Windschutzscheibe ohne Scheibenwischer, denen er folgte, das sirrende Geräusch des Wassers unter den Rädern, der stete Fluß der Straßenlaternen und das Vorübergleiten der Schaufensterscheiben. Vor der Tür des Intourist-Hotels suchten die Prostituierten wie Tauben vor einem Taubenschlag Schutz vor dem Regen.
    Ohne abzubremsen, bog er scharf in den Marx-Prospekt ein. Der Regen hatte den großen Platz in einen See verwandelt, den die Taxis wie Motorboote durchquerten.
    Fahr schnell genug, und du durchfährst die Zeit, dachte er. So hatte beispielsweise die Gorki-Straße wieder ihren alten Namen Twerskaja erhalten, der Marx-Prospekt war in Mochowoja umbenannt worden, und der Kalinin, genau vor ihm, war wieder der Neue Arbat. Er stellte sich vor, wie Stalins Geist durch die Stadt streifte, verwirrt, verloren, in Fenster schauend und Babys erschreckend. Oder, schlimmer noch, die alten Namen sehend, ohne verwirrt zu sein.
    Durch den Regen erkannte Arkadi plötzlich, daß ein Verkehrspolizist mitten auf dem Platz ein Taxi angehalten hatte. Rechts versperrten ihm Lastwagen den Weg, links näherten sich andere Wagen. Er trat aufs Bremspedal und kämpfte mit den quietschenden Rädern, während der Polizist und der Taxifahrer ihm entsetzt entgegenstarrten. Der

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