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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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es das einzige in Moskau, mit dem sich Radio Liberty empfangen ließ. Er würde sich selbst eines kaufen.
    Auf den Bahnsteigen patrouillierten Militärpolizisten und suchten nach Deserteuren. Auf dem Führerstand einer Lokomotive sah Arkadi zwei Mechaniker, einen Mann und eine Frau. Er kontrollierte die Meßanzeigen, ein muskulöser Mann mit bloßem Oberkörper, sie trug einen Pullover über dem Overall. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber er stellte sich ihr Leben auf den Schienen vor - die Landschaft, die am Fenster vorbeistrich, das Essen und Schlafen hinter der mächtigen Dieselmaschine.
    Arkadi durchquerte einen Wartesaal, der so überfüllt und doch gleichzeitig still war, daß er sich genausogut in einem Irrenhaus oder einem Gefängnis hätte befinden können. Reihe um Reihe erhoben sich Gesichter zu den stummen Bildern von Volkstänzern auf einem Fernsehschirm. Milizionäre stießen schlafende Betrunkene an.
    Usbekische Familien lagerten auf riesigen, wie Kissen aussehenden Säcken, die ihre gesamte irdische Habe enthielten. An der Theke spielten zwei usbekische Jungen an einer »Schatzkiste«. Für fünf Kopeken bediente man einen Griff, der mit einer Roboterhand in einem Glaskasten verbunden war. Der Boden des Kastens war mit Sand bestreut, und unter diesem Miniaturstrand waren Preise versteckt, die sie, mit etwas Glück, aufheben und gewinnen konnten. Eine Tube Zahnpasta, so groß wie eine Zigarette, eine Zahnbürste mit einer einzigen Reihe von Borsten, eine Rasierklinge, ein Streifen Kaugummi, ein Stück Seife. Die Hand gab sie nacheinander frei. Als Arkadi näher hinschaute, sah er, daß sich die Preise schon seit Jahren in dem Kasten befanden. Die gelben Borsten, das zerknitterte Papier und die Adern in der Seife verrieten, daß es sich nicht so sehr um Schätze als vielmehr um Schund handelte, der gelegentlich neu sortiert, doch nie entfernt wurde. Aber die Jungen spielten begeistert weiter, ohne sich entmutigen zu lassen. Es ging gar nicht darum zu gewinnen, sondern darum, etwas zu ergreifen.
    Nach anderthalb Stunden gab Arkadi auf. Jaak war nicht gekommen.
     
    Das Lenin-Pfad-Kollektiv lag im Norden der Stadt an der Autobahn nach Leningrad. Gegen den Regen in Schals gehüllte Frauen hielten Blumensträuße und Eimer mit Kartoffeln hoch, wenn ein Personen- oder Lastwagen vorbeifuhr.
    Nach Verlassen der Autobahn gelangte Arkadi unvermittelt auf eine schmutzige Landstraße, die durch ein Dorf mit dunklen, an den Giebeln bunt bemalten Hütten, neueren, aus Ytongsteinen errichteten Häusern und Gärten mit Tomatenstöcken und Sonnenblumen führte. Schwarzweiß gemusterte Kühe wanderten über die Straße und durch die Höfe. Am Ende des Dorfes teilte sich die Straße. Er nahm die, die am tiefsten ausgefurcht war.
    Die Landschaft um Moskau besteht aus flachen Kartoffelfeldern. Noch immer wurden die Kartoffeln mit der Hand aufgelesen. Studenten und Soldaten wurden zum Ernteeinsatz befohlen und zockelten hinter Bauern her, die unermüdlich Sack um Sack füllten. Alle übriggebliebenen Kartoffeln konnten später von den Städtern nachgelesen werden. Aber er sah niemanden, nur Nebel, aufgeworfene Erdschollen und in der Ferne einen Lichtschimmer. Er folgte der Straße bis zu einem brennenden Stapel aus Kartons, Sackleinen und Maisblättern. Es war eine üble Angewohnheit der Landbevölkerung, Abfall mit Braunkohle zu vermischen und dann zu verbrennen. Doch üblicherweise nicht am Abend und nicht bei Regen. Rund um das Feuer standen Pferche, Lastwagen und Traktoren, Wasser- und Benzintanks, eine Scheune, eine Garage, ein Schuppen. Kollektive bewirtschafteten kleinere Höfe, wobei sich die Arbeiter den Gewinn entsprechend der Zeit teilten, die sie investiert hatten. Irgend jemand hätte das Feuer bewachen müssen, aber niemand zeigte sich, als Arkadi hupte.
    Arkadi stieg aus, und bevor er sich dessen gewahr wurde, trat er in Wasser, das den Hof aus einer offenen Grube überschwemmte. Der scharfe Geruch nach Kalk überlagerte die anderen Gerüche der Umgebung. In der trüben, vom Regen gepockten Brühe der Grube schwammen Abfälle und Tierknochen. Das Feuer war halb so hoch wie er selbst. An einigen Stellen brannte es hell, an anderen schwelte es nur mehr. Einzelne Flammen blühten aus Zeitungen auf. Eine Dose rollte von der Spitze des aufgeschichteten Haufens zu Boden und blieb neben zwei ordentlich hingestellten Männerschuhen liegen. Arkadi hob einen von ihnen auf und ließ ihn sofort wieder fallen.

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