Das Labyrinth
dieser >Freiheitsreflex< sei nicht nur bei Hunden, sondern auch bei menschlichen Populationen zu finden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. In westlichen Gesellschaften sei er sehr ausgeprägt, in der russischen Gesellschaft jedoch, sagte er, herrsche eher ein >Gehorsamreflex< vor. Das war kein moralisches Urteil, nur eine wissenschaftliche Feststellung. Und Sie können sich vorstellen, wie der >Gehorsamreflex< seit der Oktoberrevolution im Laufe von siebzig Jahren Kommunismus gepflegt worden ist. Ich sage nur, daß unsere Erwartungen in Hinblick auf eine echte Demokratie realistisch sein sollten.«
»Was verstehen Sie unter realistisch?« fragte Irina.
»Niedrig.« Er sagte das mit der Befriedigung eines Mannes, der das Ableben eines verkommenen Subjekts beschreibt.
Der Toningenieur meldete sich aus dem Regieraum.
»Irina, wir haben Probleme mit der Qualität, wenn der Professor zu nah am Mikrofon sitzt. Ich spiele das Band noch einmal ab. Macht eine Pause.«
Arkadi erwartete, das Gespräch noch einmal zu hören, aber der Toningenieur lauschte in seine Kopfhörer, während die Geräusche aus dem Aufnahmestudio weiterhin in den Regieraum drangen.
Irina öffnete ihre Handtasche und nahm eine Zigarette heraus. Der Professor sprang fast über den Tisch, um sie anzuzünden. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr Haar zur Seite und ließ einen Ohrring aufleuchten. Ihr blauer Pullover, sicher aus Kaschmir, war fast zu elegant, um ihn bei der Arbeit in einem Radiosender zu tragen, dachte Arkadi.
»Das ist ein bißchen stark, finden Sie nicht? Russen mit Hunden zu vergleichen?« fragte Irina.
Der Professor verschränkte die Arme, immer noch erfüllt von stolzer Zufriedenheit. »Nein, überlegen Sie doch nur. All diejenigen, die nicht gehorchen wollten, sind entweder getötet worden oder haben vor langer Zeit das Land verlassen.«
Arkadi sah die Verachtung in ihren Augen, die sich wie eine Flamme auszudehnen schien. Vielleicht hatte er sich auch geirrt, denn ihre Stimme war unverändert freundlich. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie. »Es ist ein anderer Typ, der heute Moskau den Rücken kehrt.«
»Genau! Die Leute, die jetzt kommen, das sind die zurückgelassenen Familien. Nachzügler, keine Führer. Das ist kein Werturteil, nur eine Charakteranalyse.«
Irina sagte: »Nicht nur Familien.«
»Nein, nein. Frühere Kollegen, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe, tauchen plötzlich überall auf.«
»Freunde.«
»Freunde?« Eine Kategorie, die er nicht bedacht hatte.
Rauch hatte sich im Licht gesammelt und wob einen Heiligenschein um Irina. Es war der Kontrast, der Arkadi so faszinierte: eine Maske mit Augen und einem vollen Mund, dunkles, streng gescheiteltes Haar, das sanft auf die Schultern fiel. Sie glühte wie Eis.
»Es kann sehr schmerzlich sein«, sagte Irina. »Es sind ja durchaus anständige Leute, und es ist so wichtig für sie, einen zu sehen.«
Der Professor beugte sich vor, bestrebt, seine Anteilnahme zu zeigen. »Man ist der einzige, den sie kennen.«
»Man will sie ja nicht verletzen, aber ihre Erwartungen sind reine Phantasien.«
»Sie leben in einem Zustand der Unwirklichkeit.«
»Denken jeden Tag an einen, aber Tatsache ist, daß zuviel Zeit vergangen ist. Man selbst hat seit Jahren nicht mehr an sie gedacht«, sagte Irina.
»Sie leben ein anderes Leben, in einer anderen Welt.«
»Wollen da anfangen, wo man selbst aufgehört hat.«
»Sie würden einen erdrücken.«
»Sie meinen es gut.«
»Sie würden Besitz von einem ergreifen.«
»Und wer weiß noch, wo man einmal aufgehört hat?« fragte Irina. »Was immer damals war, ist tot.«
»Man muß freundlich, aber streng sein.«
»Es ist, als ob man einem Geist begegnet.«
»Bedrohlich?«
»Eher mitleiderregend als bedrohlich«, sagte Irina. »Man fragt sich nur, warum kommen diese Menschen nach all den Jahren?«
»Bei Ihnen, wenn sie Sie im Radio hören, kann ich mir ihre Phantasien gut vorstellen.«
»Man will schließlich nicht grausam sein.«
»Was Sie ganz bestimmt nicht sind«, versicherte ihr der Professor.
»Es scheint nur so … Es scheint, daß sie tatsächlich glücklicher wären, wenn sie mit ihren Träumen in Moskau blieben.«
»Irina?« sagte der Toningenieur. »Laß uns die letzten beiden Minuten noch einmal aufnehmen, und achte bitte darauf, daß der Professor nicht zu nahe ans Mikrofon kommt.«
Der Professor kniff die Augen zusammen und versuchte, in den Regieraum zu sehen.
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