Das Labyrinth
aufzustehen.«
»Jetzt scherzen Sie nicht«, sagte Arkadi.
»Nein.« Stas lehnte sich zurück und stieß einen langen, rauchgeschwängerten Seufzer aus. Er ist wirklich dürr wie ein Schornsteinrohr, dachte Arkadi. »Jedenfalls habe ich den ganzen Tag Zeit, das Material zurechtzustutzen, und wer weiß, was für interessante Katastrophen noch bis zur Sendezeit eintreffen?«
»Die Sowjetunion ist ein fruchtbarer Boden?«
»Ich muß bescheiden sein. Ich ernte nur, ich säe nicht.« Stas schwieg einen Augenblick. »Aber da wir gerade von der Wahrheit reden: Ich kann gut verstehen, daß ein sowjetischer Inspektor, möge er auch noch so abgebrüht sein, sich in Irina verliebt, Familie und Karriere aufs Spiel setzt, sogar für sie tötet. Danach sind Sie dann, wie ich gehört habe, von der Partei offiziell getadelt worden, aber Ihre einzige Strafe hat schlicht darin bestanden, für kurze Zeit nach Wladiwostok geschickt zu werden, wo Sie eine Zeitlang einen bequemen Bürojob bei der Fischerei innehatten. Und schon wurden Sie nach Moskau zurückbeordert, um den reaktionärsten Kräften zu helfen, freie Unternehmer zur Räson zu bringen. Das Büro des Oberstaatsanwalts konnte Sie kaum kontrollieren, da Sie, wie zu vernehmen war, ausgezeichnete Beziehungen zur Partei hatten. Dann aber, als wir Sie gestern im Biergarten getroffen haben, waren Sie absolut nicht der sture Apparatschik, den ich erwartet hatte. Dafür ist mir etwas anderes aufgefallen.« Er rollte mit seinem Stuhl näher heran, bewegte sich behender auf Rädern. »Geben Sie mir Ihre Hand.«
Arkadi kam der Aufforderung nach, und Stas öffnete die Hand, um die Narben zu betrachten, die quer über die Innenfläche liefen. »Da haben Sie sich nicht an Papier geschnitten«, sagte er.
»Schleppnetztrossen. Die Ausrüstung der Fischer ist alt, die Trossen fasern aus.«
»Wenn die Sowjetunion sich nicht gewaltig geändert hat, ist das Einholen von Netzen nicht gerade das, was man einem Liebling der Partei angedeihen läßt.«
»Ich habe das Vertrauen der Partei schon seit langem verloren.«
Stas studierte die Narben wie ein Handleser. Er besaß, wie Arkadi bemerkte, jene erhöhte Konzentrationsfähigkeit, wie man sie erlangt, wenn man Jahre als Krüppel leben oder im Krankenbett verbringen mußte. »Sind Sie hinter Irina her?« fragte er.
»Meine Aufgabe in München hat wirklich nichts mit ihr zu tun.«
»Und Sie können mir nicht sagen, worin diese Aufgabe besteht?«
»Nein.«
Das Telefon läutete. Obgleich der Lärm förmlich Staub aufzuwirbeln schien, betrachtete Stas den Apparat mit Gleichmut, ganz so, als klingelte er an einem fernen Strand. Er blickte auf die Uhr. »Das wird der Chef der Sicherheit sein. Ludmilla hat ihm gerade gesagt, daß ein übel beleumdeter Ermittler aus Moskau in den Sender eingedrungen ist.« Er sah Arkadi fragend an. »Sind Sie eigentlich nicht hungrig?«
Die Kantine lag ein Stockwerk tiefer. Stas führte Arkadi an einen Tisch, wo eine schwarzweiß gekleidete deutsche Kellnerin ihre Bestellung - Schnitzel und Bier - entgegennahm. Junge Amerikaner mit offenen Gesichtern gingen nach draußen in den Garten. Die Tische drinnen waren von älteren, vorwiegend männlichen Emigranten besetzt, die zwischen dichten Schwaden von Zigarettenrauch müßig dasaßen.
»Wird der Sicherheitschef nicht hier nach Ihnen suchen?« fragte Arkadi.
»In unserer Kantine? Nein. Ich esse gewöhnlich am Chinesischen Turm.« Stas zündete sich eine Zigarette an, atmete den Rauch ein und hustete gewohnheitsgemäß, während er seinen hellen Blick durch den Raum schweifen ließ. »Ich bekomme immer Heimweh, wenn ich all die Vertreter des Sowjetreichs hier sehe. Die Rumänen haben ihren eigenen Tisch, dort drüben sitzen die Tschechen, da die Ukrainer.« Er nickte einigen Männern in weißen, kurzärmeligen Hemden zu. »Und die Turkmenen. Die Turkmenen hassen uns natürlich, und das Problem ist, daß sie es heute auch laut sagen.«
»Die Dinge haben sich also geändert?«
»In dreierlei Hinsicht: Erstens, die Sowjetunion fällt auseinander, und seit die Nationalisten sich dort gegenseitig an die Kehle gingen, passiert hier genau das gleiche. Zweitens, die Kantine schenkt keinen Wodka mehr aus. Jetzt kriegt man nur noch Wein oder Bier, nichts Hochprozentiges mehr. Drittens, statt von der CIA werden wir jetzt vom Kongreß kontrolliert.«
»Sie sind also kein Instrument der CIA mehr?«
»Das war die gute, alte Zeit. Die CIA wußte wenigstens, was sie
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