Das Lachen der Hyänen: Thriller (German Edition)
vormacht. Die sagt, was Sache ist. »Sie müssen sich Ihrer Krankheit stellen. Sie dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken, das hilft Ihnen gar nichts. Sie müssen wollen. Es ist nicht leicht. Es wird die größte Herausforderung, die Sie bisher in Ihrem Leben meistern mussten. Die schwerste Rolle, wenn man so will.«
»Ich verspreche Ihnen, dass Sie es schaffen«, sagt die Ärztin. »Aber Sie müssen es wollen . Haben Sie verstanden?«
»Und wenn ich nicht will?« Kitty sagt es ganz selbstverständlich, als müsse sie nicht darüber nachdenken. Oder als dächte sie unentwegt darüber nach und hätte sich längst entschieden. »Wenn ich nicht mehr spielen will?«
»Dann haben Sie keine Chance. Dann haben wir keine Chance.«
Sie betrachtet die Ärztin wie ein Bild. Ein schönes Bild. Das Gesicht, die kurzen Haare, die Augen und den sinnlichen Mund, der sie an irgendetwas Schönes erinnert, sie kommt nur nicht darauf. Immer wieder verschwimmt das Bild, scheint sich mit etwas anderem zu vermischen, scheint zu verwischen. Die Konturen lösen sich auf und ergeben ein neues, ebenso schönes Bild.
Ja, die Ärztin ist schön. Sie ist vielleicht zwanzig Jahre älter als Kitty. Sie hat sich immer gewünscht, später mal so auszusehen. Attraktiv, begehrenswert und im Alter noch jung. Ob sie Kinder hat?
»Haben Sie Kinder?«
»Nein.« Die Ärztin lacht, als hätten Kinder nie einen Platz in ihrer Lebensplanung gehabt. Als wäre ihr Leben nur ohne Kinder denkbar.
Es ist ein schönes Lachen, ein befreiendes, aufrichtiges Lachen, denkt Kitty. Ein Lachen, in das man sich genauso verlieben könnte wie in den sinnlichen Mund, der es formt.
Auch in sein Lachen hatte Kitty sich verliebt. Auch sein Mund hatte es ihr angetan. Mit ihm hatte sie sich nicht mehr nur halb gefühlt, mit ihm war sie ganz gewesen.
»Aber irgendwann werden Sie bestimmt Kinder haben«, sagt die Ärztin, als wäre es das Normalste der Welt.
»Und wenn ich keine mehr will?« Kitty wirkt kühl, abweisend. Die Ärztin lässt sich nicht davon beeindrucken, scheint für Mitleid nicht empfänglich.
»Ich weiß«, sagt die Ärztin. »Es schmerzt, ein Kind verloren zu haben. Aber Sie sind jung. Sie können diesen Schmerz überwinden, und dann werden Kinder wieder ein Thema in Ihrem Leben sein.«
»Glaube ich nicht.« Es klingt endgültig.
»Warten wir’s ab.«
Sie will nicht warten. Sie kann nicht warten. Weder auf Kinder noch auf irgendetwas anderes. Alles erscheint ihr leer, sinnlos. Alles scheint ihr fremd. Auch sie selbst. Jetzt ist sie nicht mehr nur halb, jetzt ist sie gar nicht mehr. Ein Niemand, ein Nichts. Eine kugelrunde Null, die sich danach sehnt, für immer zu verschwinden.
»Kitty?« Es ist die Stimme der Ärztin, die von weit weg an ihr Ohr dringt, einem Windhauch gleich. »Kitty, hören Sie mich?«
Kitty hört sie, sagt aber nichts. Kann nichts sagen, nur schauen und spüren. Sie spürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Dass ihr Name in Buchstaben zerfällt, die keinen Sinn ergeben.
Kitty? Wer ist das? Wer war das? denkt sie und sagt: »Krokodile können fliegen.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, kratzt an den blutigen Nagelbetten ihrer Finger und weiß, Kitty gibt es nicht mehr. Kitty ist bereits tot. Auch wenn die Nagelbetten noch bluten und sie im Arm der Ärztin liegt wie ein Kind. Ein hilfloses Baby. Sie riecht das Feinwaschmittel des Arztkittels. Die Sprühstärke am Kragen, die sie an ihre Kindheit erinnert. Hoffmanns Sprühstärke , im Ländle. Pflegen ist unsere Stärke .
Sie mischt sich unter das Weiß des Stoffes. Taucht ein in das Weiß des Kittels wie in einen milchigen See, im Sommer, im Schwäbischen, vor langer Zeit. Als wäre die Zeit stehengeblieben und alles noch so wie früher, taucht sie aus dem See auf, als Mädchen mit Zahnspange und Zöpfen, zusammengehalten von zwei Einmachgummis. Die Sonne scheint. Es ist so heiß, dass die Luft flimmert. Sie trägt ihr Lieblingskleidchen mit den großen Blüten darauf und rennt mit ihrer besten Freundin Doreen durch ein Sonnenblumenfeld. So schnell sie können, laufen sie zwischen den Stängeln hindurch und suchen nach dem Ausgang aus diesem unendlich scheinenden Ozean aus Gelb. Immer wieder springen sie hoch, um über die Stängel hinwegzublicken und das Ende des Feldes zu sehen. Und sehen doch nichts als gelbe Blüten, die in der heißen Luft zittern.
So lange, bis sie Doreen verliert. Sie bleibt stehen, dreht sich um, doch Doreen ist verschwunden. Sie ist allein,
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