Das Lächeln der toten Augen
Gegenständen, die die Polizisten bei der Durchsuchung wohl übersehen hatten, waren Namen, Daten und einige Kraftausdrücke in einzelne Kacheln geritzt.
In all den langen Stunden hatte sie kaum ein Auge zugetan. Zuerst hatte sie sich still in eine Ecke gesetzt, schließlich hatte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können. Sie war aufgestanden und wie ein Tiger in einem Käfig hin und her gegangen. Das mulmige Gefühl in der Magengegend hatte sich zu einem Schmerz gesteigert. Dann hatte sie auf den kleinen Knopf neben der Tür gedrückt. »Nur im Notfall«, hatte die Beamtin gesagt, doch es war ein Notfall gewesen.
Nachdem ihr die junge Polizistin Wasser in einem Pappbecher gereicht hatte, konnte sie ihre aufkeimende Panik wieder besänftigen.
Schon wenige Minuten später ergriff das beengende Angstgefühl langsam Besitz von ihr. Sie zitterte am ganzen Körper. Zur Ablenkung zählte sie die Kacheln an den Wänden. Doch es nutzte nichts. Erneut klingelte sie. Die Beamtin brachte ihr eine zweite Decke.
Nach dem fünften Klingeln erschien ein großer, bärtiger Polizist und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie sich zusammenreißen müsse. Sie nickte verständig und versuchte sich zu beruhigen. Eine Reihe Kacheln umfasste insgesamt 14 Fliesen. Das waren 196 Fliesen pro Wand. Dazu die Decke mit der gleichen Anzahl, das waren schon 980 dieser quadratischen und kalt wirkenden Keramikkacheln. Dazu noch der Boden und das gemauerte Bett ergaben insgesamt 1168 Stück. Oder waren es 1188? Sie wusste es nicht mehr, die Angst kehrte zurück. Wiederum lief sie ruhelos auf und ab.
Draußen war es bereits dunkel. Schreie dröhnten durch den Flur. Ein Mann kreischte laut und stieß grobe Beleidigungen aus. Sie hörte ein lautes Klatschen, zweimal, dann herrschte Ruhe. Kurzzeitig, bis der Mann erneut zu grölen und lamentieren begann. Sie war sich sicher, dass er direkt neben ihr in einer Zelle saß. Sie klingelte erneut. Ihr Hals war trocken.
Ein dicker Beamter mit lockigen, dunklen Haaren erschien. Barsch fragte er, was sie denn nun schon wieder wolle. Er erklärte ihr noch einmal, diesmal mehr als eindringlich, dass sie sich endlich hinlegen sollte, denn sonst müsse er sie mit Handschellen fesseln. Schließlich habe man noch anderes zu tun, als für sie Kindermädchen zu spielen. Sie wäre sowieso selbst daran schuld, dass sie hier in diesem Loch sitzen müsse.
Erneut liefen Vesna Glasic dicke Tränen über die bleichen Wangen. Doch von nun an traute sie sich nicht mehr zu klingeln. Mitten in der Nacht musste sie die Toilette benutzen. Sie fühlte sich erniedrigt und schmutzig. Endlich schlief sie ein. Der Morgen graute bereits. Doch sie schwor sich, nicht noch eine Nacht in diesem Verlies hier zu verbringen.
Als sie erwachte, fielen Sonnenstrahlen durch die Fenster. Einen Augenblick dauerte es, bis ihre Erinnerung zurückkam. Sie hatte Durst. Sie klingelte.
*
Das Klingeln riss Trevisan aus einem unruhigen Schlaf. Er hatte von Angela geträumt, von ihrer samtweichen Haut, ihren roten Lippen und dem langen schwarzen Haar. Er vermisste sie.
Trevisan griff zum Telefon. Ein Kollege vom Polizeiarrest war am Apparat. Er entschuldigte sich für die sonntägliche Störung, doch eine Inhaftierte des K 1 wolle unbedingt mit dem ermittelnden Kommissar sprechen. Was sie zu sagen hatte, erschien dem Kollegen wichtig genug, um trotz des Sonntags Trevisan in aller Frühe anzurufen.
Trevisan erledigte hastig seine Morgentoilette und machte sich auf den Weg ins Büro. Als er aus der Einfahrt seines Hauses fuhr, fiel ihm ein dunkler BMW mit FRI-Kennzeichen auf, der in einiger Entfernung an der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Einen Augenblick lang beschlich ihn ein komisches Gefühl, als er an dem Wagen vorbeifuhr. Doch schon war er mit seinen Gedanken wieder bei Vesna Glasic. Dann fiel ihm siedendheiß ein, dass er den Squashtermin mit Peter Koch auf den heutigen Sonntag verschoben hatte.
Als er auf dem Revier eintraf, telefonierte er zuerst einmal mit Peter und entschuldigte sich.
»Wieder einmal die Arbeit«, bemerkte Peter lakonisch.
»Ja, die Arbeit«, bestätigte Trevisan.
Vesna Glasic saß bereits im Vernehmungszimmer. Sie rauchte und zündete eine neue Zigarette am Stummel der verrauchten an. Ihre Augen flogen nervös hin und her. Trevisan bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie war noch ein bisschen blasser als gestern und ihre Augenringe hatten eine lila Färbung angenommen.
Der
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