Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
oder?»
«Klingt aber, als könnte es stimmen. Wenn man sich das ganze Adrenalin, diese extreme Gewalt vorstellt und was drum herum los war. Alles ging so schnell, und dann ihre eigene fieberhafte Tat, nachdem ihr klargeworden war, was passiert war, wozu sie beigetragen hatte. Und dann sieht sie sich kurz um, ihr wird bewusst, was sie Arnold de Lisle angetan hat, und ihr Magen rebelliert …»
Jon Scole lächelte. «Sind Sie an einem Teilzeitjob interessiert?»
Unter Merrilys Schuh knackte ein Ast, und sie fuhr herum.
«Sie kriegen ja sogar selber Angst», sagte Jon.
«Hat Robbie auch die Geistergeschichten so plastisch erzählt?»
«Darin war er wahrscheinlich am besten.»
«Denn wenn es kein Unfall war und er sich umgebracht hat, weil er es nicht ertragen konnte, sein geliebtes Ludlow zu verlassen, warum ist er dann vom falschen Turm gesprungen? Warum nicht von Marions Turm?»
Jon blies die Backen auf. «Da sagen Sie was. Ich meine, ich weiß noch, dass er immer meinte, wir könnten uns nicht sicher sein, weil große Teile des Schlosses erst später erbaut wurden – nach Marions Tod also, der hat sich ja unter Henry II . oder so ereignet. Damals muss sowieso alles anders ausgesehen haben.»
«Aber Marion hat sich nicht vom Burgfried gestürzt. Das weiß man doch mit Sicherheit, oder?»
«Vom Henkersturm fällt man tiefer, weil man bis ganz nach oben kann. Das Ergebnis ist so gut wie garantiert.» Jon Scole ging zu der uralten Eibe und befühlte die dunkle, harzige Rinde des Baumes. «Wenn der alte Kerl hier sprechen könnte», er grinste, «vielleicht kann er’s ja. Gibt ’ne Menge mystische Erzählungen über Eiben.»
«Hab ich auch gehört.»
«Hat alles mit Unsterblichkeit zu tun, Mary. Eiben leben ewig. Manche sind zweitausend Jahre alt. Es haben schon immer welche auf Friedhöfen gestanden, und manchmal sind sie älter als die Kirche.»
«Ich glaube, das ist nicht meine bevorzugte Art der Unsterblichkeit», sagte Merrily. «Für alle Ewigkeit an ein und demselben Fleck verwurzelt zu sein.»
«Das hängt von dem Fleck ab», sagte die Frau.
Es war schwer zu sagen, wie lange sie schon dort stand, am Wegrand, mit dem Rücken zum Fluss und den Hügeln und dem Wald. Sie trug keinen Umhang, nur einen dieser knöchellangen blauen Hirtenmäntel, den sie bis oben hin zugeknöpft hatte.
Merrily dachte: Wie ruhig sie wirkt, wie sittsam, wie vornehm.
«Ich habe gehört, dass es auf Friedhöfen in Wahrheit deshalb so viele Eiben gibt, weil sie auf Leichen besonders gut gedeihen», sagte die Frau.
28 An der Eibe lecken
Mit der Berühmtheit war es merkwürdig. Man sagte sich immer, dass man nie von Leuten eingeschüchtert wäre, nur weil man sie aus dem Fernsehen kannte oder sie dem Kabinett oder der königlichen Familie angehörten. Schließlich wusste man aus Erfahrung, dass Filmstars und Minister oft beschränkt und paranoid waren.
Aber es war etwas anderes, wenn jemand berühmt gewesen war, als man sich von Ruhm noch beeindrucken ließ. Etwas davon blieb einem, und Merrily überlief der alte Schauder.
«Die Historiker sagen, der heilige Baum der Druiden war die Eiche.» Eine Stimme wie dunkelgrünes Glas. «Aber die Druiden können sich nicht so getäuscht haben.»
Merrily sagte nichts, merkte aber, dass sie nickte, auf diese instinktive, unterwürfige Weise, die sie immer verachtet hatte. Allerdings hatte sie zum Thema Eichen versus Eiben ohnehin keine Meinung.
«Ich liebe und verehre sie», sagte Mrs. Pepper. «Von meinem Grundstück sind offenbar ein paar unter Naturschutz stehende Eichen entfernt worden. Das ist nicht dramatisch, Eichen sind in Ordnung – solide und zuverlässig, aber sie haben nicht den Intellekt oder die Raffinesse. Oder den wahren Schlüssel zum Überleben. Stimmt doch, oder, Jonathan?»
«Wenn Sie es sagen, Ma’am.» Jon Scole neigte doch tatsächlich den Kopf, als verbeuge er sich.
«Meine Eibe – ich habe zu Hause diese unglaubliche Eibe – wurde verschont, als sie die Eichen gefällt haben. Es wäre sehr böse gewesen, wenn sie die Eibe auch gefällt hätten, oder? Das weiß sogar Jonathan.»
Jon Scole deutete erneut eine Verbeugung an. Falls er damit seine Respektlosigkeit verbarg, gelang es ihm gut. Mrs. Pepper ging auf den Baum zu.
«Für eine Eibe ist diese hier noch recht jung, aber sie ist dennoch ein Kind des Todes.» Sie redete, als spräche sie zu einer größeren Gruppe. «Die Eibe vermittelt die wichtigste Botschaft der Natur über den Tod
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