Das Lächeln des Cicero
Stichwort reagieren. Hinter seiner Maske lächelt der
Hirte und geht ab.
Ich gab vor,
geistesabwesend auf ein paar Rollen in der Nähe zu starren;
aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, daß Cicero mich noch immer
beobachtete, um jede meiner Reaktionen abzuschätzen. Redner
glauben immer, sie könnten jeden und alles mit ihren Worten
kontrollieren. Ich setzte eine möglichst ausdruckslose Miene
auf.
»Mein
Vater«, setzte ich an, mußte jedoch innehalten, um mich
zu räuspern, und haßte diese Unterbrechung, weil sie wie
ein Zeichen von Schwäche wirken mußte. »Mein Vater
ist bereits tot, geschätzter Cicero. Er starb vor vielen
Jahren.« Der Schalk in seinen Augen schwand. Er legte die
Stirn in Falten.
»Ich bitte um
Verzeihung«, sagte er leise, mit einer angedeuteten
Verbeugung. »Ich wollte dich nicht
beleidigen.«
»Das hast du
auch nicht.«
»Gut.«
Nach einer angemessenen Frist glättete sich seine Stirn
wieder. Ein verschmitzter Ausdruck nistete sich erneut in seinen
Augen ein. »Dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich
dieselbe Frage noch einmal stelle - rein hypothetisch
natürlich. Mal angenommen also, nur angenommen, du
hättest einen Vater, den du loswerden wolltest. Wie
würdest du es anstellen?«
Ich zuckte die
Schultern. »Wie alt ist der alte Herr?«
»Sechzig,
fünfundsechzig.«
»Und wie alt bin
ich - rein hypothetisch?«
»Um die
vierzig.«
»Ich würde
die Zeit für mich arbeiten lassen«, sagte ich.
»Was immer das Problem sein mag, die Zeit wird sich seiner
annehmen, so sicher wie jedes andere Heilmittel.«
Cicero nickte.
»Einfach warten, meinst du. Sich zurücklehnen und der
Natur ihren Lauf lassen. Ja, das wäre unbedingt die einfachste
Lösung. Und möglicherweise, wenn auch nicht unbedingt,
die sicherste. Es wäre auf jeden Fall das, was die meisten
Menschen tun würden, wenn sie sich mit einem Zeitgenossen
konfrontiert sehen, dessen Existenz sie kaum ertragen können -
besonders, wenn diese Person älter und schwächer ist als
sie, besonders, wenn es sich um ein Mitglied der eigenen Familie
handelt. Ganz besonders, wenn es der eigene Vater ist. Man
erträgt die Unbilden und übt sich in Geduld. Soll die
Zeit das Problem lösen. Schließlich lebt niemand ewig,
und Kinder überleben normalerweise ihre
Eltern.«
Cicero hielt inne. Die
gelbe Gaze hob und senkte sich sanft, als habe das ganze Haus
ausgeatmet. Der Raum wurde von Hitze durchströmt. »Aber
die Zeit kann sich als ein kostspieliger Luxus erweisen. Sicher
haucht ein alter Mann von fünfundsechzig Jahren sein Leben
irgendwann von alleine aus, wenn man lange genug wartet - obwohl er
darüber möglicherweise ein Greis von fünfundachtzig
wird.«
Cicero erhob sich aus
seinem Stuhl und begann, auf und ab zu gehen. Er war kein Mann, der
beim Reden stillsitzen konnte. Im Laufe der Zeit begann ich seinen
ganzen Körper als Maschine zu begreifen - die entschlossenen
Schritte seiner Beine, die fuchtelnden Arme, die Hände, die
kleine nachdenkliche Gesten in der Luft formten, der geneigte Kopf,
die auf und ab schwingenden Brauen.
Keine dieser
Bewegungen geschah aus Selbstzweck. Sie waren vielmehr alle
irgendwie miteinander verbunden und in den Dienst seiner Stimme
gestellt, jener seltsamen, erregenden und völlig
faszinierenden Stimme - als ob sie ein Instrument und sein
Körper die Maschinerie wären, die den Klang erzeugten;
als ob seine Gliedmaßen und Finger die Hebel und Rädchen
wären, die zur Hervorbringung der Töne nötig waren,
die aus seinem Mund kamen. Der Körper war in Bewegung, und die
Stimme ertönte.
»Stell dir
vor«, sagte er - eine leichte Neigung des Kopfes, ein
subtiler Schnörkel der Hand - »der Mann ist
fünfundsechzig und lebt als Witwer hier in Rom. Keineswegs
zurückgezogen. Er geht gerne zu Abendessen und Festen. Er
liebt die Arena und das Theater. Er frequentiert die Bäder. Er
ist sogar Stammgast - ich schwöre, mit fünfundsechzig! -
in einem nahegelegenen Bordell. Sein Leben besteht nur aus
Vergnügen. Er hat seinen Beruf aufgegeben. Oh, es gibt genug
Geld, wertvolle Güter auf dem Land, Weinberge und
Bauernhöfe - aber das kümmert ihn alles nicht mehr. Er
hat die Verwaltung schon lange einem Jüngeren
übertragen.«
»Mir«,
sagte ich.
Cicero lächelte
schwach. Wie alle Redner haßte er Unterbrechungen, aber die
Frage bewies zumindest, daß ich zuhörte.
»Ja«, sagte er, »rein hypothetisch. Dir. Seinem
hypothetischen Sohn. Das Leben des alten Herrn besteht, wie gesagt,
nur aus
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