Das Land des letzten Orakels
Ihre Gedanken, sogar diejenigen, die Ihnen gar nicht bewusst sind. Und ich will Ihnen etwas sagen: Ich weiß genau, warum Sie das Chaos wollen. Weil Sie im Chaos Ihren Glanz entwickeln können. Sie, das Symbol der Nächstenliebe, die Retterin … all diese Menschen schauen zu Ihnen auf, und Sie kommen sich großartig dabei vor.«
Lily erbleichte. Mark wünschte sich, dass sie es zurückwies, wollte, dass sie Snutworth seine eigenen Worte an den Kopf warf. Doch er wusste, dass sie es nicht konnte.
»Warum lehnen Sie sich gegen mich auf?«, fragte Snutworth und heftete den Blick seiner grünen Augen auf Mark. »Hassen Sie denn nicht dieses ganze Chaos, Mark? Dieses ständige Kämpfen und Weglaufen und die Veränderungen der Welt? Alles, was Sie sich gewünscht haben, war eine ruhige, stabile Familie. Das war die einzige Zeit, in der Sie wirklich glücklich waren, nicht wahr? Als Sie am Flussufer gespielt haben, bevor Sie irgendetwas von dem hier wussten. Leugnen Sie es nicht. Ich habe Ihre Gedanken gehört.«
Mark wollte eine Antwort geben, fühlte sich jedoch plötzlich müde. Die Luft um ihn herum summte vor Geflüster, und so vieles davon klang vertraut. Die Stimmen seiner toten Mutter, von Bruder und Schwester.
»Ihr armen Kinder«, sagte Snutworth und hörte sich dabei geradezu aufrichtig an. »Aber ihr konntet natürlich niemals wirklich Kinder sein, nicht wahr? Die arme Lily, von einem Vater verlassen, der sie in eine grausame, herzlose Stadt schickte, und einer Mutter, die alles auf der Welt wusste, nur nicht ihren eigenen Namen. Der arme Mark, behütet von einer Mutter, die außer Geschichten nichts zu bieten hatte, und einem Vater, der ihn verkaufte. Was für traurige Leben. Aber das kann ich ändern.« Er lächelte. »Sie brauchen bloß aus dieser Kammer zu gehen. Ich werde Sie leben lassen. Und von da an werden Sie für nichts mehr verantwortlich sein. Keine Verantwortung, kein Schmerz. Die Leute um Sie herum werden immer noch glauben, sie wären die Herren über ihr eigenes Leben, Sie aber werden die traurige Wahrheit kennen. Dass ich jeden einzelnen ihrer Gedanken kenne, jede einzelne ihrer Begierden. Und wenn es meiner Laune entspricht, die Welt oben zu verändern, werde ich einen meiner Gefolgsleute herbeirufen und ihm meine Anweisungen erteilen. Ein einziges Wort am richtigen Platz kann den Verlauf von Leben ändern oder ganz beenden.« Snutworth lächelte gütig, und überall um ihn herum schwoll die Intensität des Hohelieds an. »Die alten Waage-Leute waren außergewöhnliche Menschen, begriffen aber nie wirklich, was sie geschaffen hatten. Sie hatten das Orakel lediglich dazu bestimmt zuzuhören. Sie erkannten nicht die Möglichkeit zu manipulieren, zu steuern, und das alles unter der Illusion von Freiheit.« Er erhob die Stimme, und das Flüstern ließ jedes seiner Worte widerhallen. »Bis heute war ich lediglich der Herrscher der Länder oben. Nun werde ich die Länder oben sein . Agora und Giseth sind meinem Willen unterworfen, so als wären sie Teil meines eigenen Körpers. Andere werden kämpfen, wieder andere werden sich erheben und stürzen, wenn ich es will. Aber ihr beide werdet in Frieden leben. Ihr könnt wieder Kinder sein, wissend, dass ich über euch wache, dass ihr nie wieder eine Entscheidung treffen müsst.«
Mark und Lily schauten einander an. Bei all seiner Angst war Mark bewusst, dass er sich dies tatsächlich wünschte. Er wünschte es sich so sehnlich, dass es schmerzte. Genau dafür war er so lange gerannt, hatte so lange gekämpft. Er wollte nur noch nach Hause gehen, seine Freunde wiedertreffen und sich über nichts mehr Sorgen machen müssen.
Und genau deswegen durfte er Snutworth nicht gewinnen lassen.
Im gleichen Moment, in dem Mark losstürmte, rammte Lily Wolfram ihren Ellbogen in die Rippen. Der Mönch ging in die Knie, und der Degen fiel ihm aus der Hand. Lily befreite sich von ihm und hechtete in Richtung der Waffe. Wolfram stieß Lily beiseite und tastete nach der Klinge, doch Mark trat ihm mehrmals auf die Hände, während Lily den Degen aufhob, hochsprang und zurücktrat.
Wolfram stand auf, und Lily richtete den Degen auf Wolframs Herz. Keiner rührte sich.
Vorsichtig begab sich Mark hinter Lily. Von seiner Position aus spürte er, dass sie ein wenig zitterte, doch der Mönch kam nicht näher.
»Mein lieber Mann«, sagte Snutworth sanft, »das ist nicht Ihr bester Moment, Wolfram. Aber es spielt keine Rolle. Diese beiden sind kaum der Rede wert. Machen
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