Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
entdeckten sie jene einsamen Gehöfte, die in Trichtern aus Stein, Schluchten und Felsen versteckt waren, in denen sich Thymian festkrallte. Und dort erst zeigte sich der Sommernachtshimmel ganz und klar und tief.
»Wusstest du, dass wir alle Kinder der Sterne sind?«, hatte Manon ihn gefragt, warm und dicht an seinem Ohr, um die Stille der Berge nicht zu stören.
»Als vor Milliarden Jahren die Sterne implodierten, regnete es Eisen und Silber, Gold und Kohlenstoff. Und das Eisen des Sternenstaubs ist heute in uns. In unseren Mitochondrien. Die Mütter geben die Sterne und ihr Eisen weiter an die Kinder. Du und ich, Jean – wer weiß –, sind vielleicht aus dem Staub ein und desselben Sterns, und wir haben uns an seinem Licht erkannt. Wir haben uns gesucht. Wir sind Sternensucher.«
Er hatte emporgesehen und sich gefragt, ob sie das Licht des toten Sterns, der in ihnen weiterlebte, noch sehen konnten.
Manon und er hatten sich eine funkelnde Himmelsperle ausgesucht. Ein Stern, der noch leuchtete, obgleich er vielleicht schon längst Vergangenheit war.
»Der Tod bedeutet gar nichts, Jean. Wir bleiben immer, was wir füreinander waren.«
Die Himmelsperlen spiegelten sich auf der Yonne. Sterne, die auf dem Fluss tanzten, wiegend, ein jeder einsam, sich nur liebkosend, wenn die Wellen übereinanderbrachen und für einen Lidschlag zwei Lichtperlen aufeinanderlegten.
Jean fand Manons und seinen Stern nicht wieder.
Als Perdu auffiel, dass Ida ihn beobachtete, sah er sie an.
Es war kein Blick zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Menschen, die auf den Flüssen unterwegs sind, weil sie etwas suchten. Etwas Bestimmtes.
Perdu sah Idas Kummer. Er flackerte in ihren Augen. Jean sah, dass die Rothaarige damit rang, sich mit einer neuen Zukunft anzufreunden, die sich noch nach zweiter Wahl anfühlte. Sie war verlassen worden oder selbst gegangen, bevor sie weggestoßen werden konnte. Der Mensch, der ihr Fixpunkt gewesen war und für den sie vermutlich verzichtet hatte – der lag noch um ihr Lächeln wie ein Schleier.
Wir bewahren alle die Zeit auf. Wir bewahren die alten Ausgaben jener Menschen auf, die uns verlassen haben. Und auch wir sind noch diese alten Ausgaben, unter unserer Haut, unter der Schicht aus Falten und Erfahrung und Lachen. Genau darunter sind wir noch die Ehemaligen. Das ehemalige Kind, der ehemalige Geliebte, die ehemalige Tochter.
Ida suchte hier auf den Flüssen keinen Trost – sie suchte sich. Ihren Platz in dieser neuen, unbekannten, noch zweitklassigen Zukunft. Sie allein.
»Und du?«, fragten ihre Augen. »Und du, Fremder?«
Perdu wusste nur, dass er zu Manon wollte, um sie um Verzeihung zu bitten für seine eitle Dummheit.
Und dann sagte Ida plötzlich: »Ich wollte gar nicht frei sein. Ich wollte mich nicht um ein neues Leben kümmern müssen. Es war mir genau so recht. Vielleicht liebte ich meinen Mann nicht so, wie es in Büchern steht. Aber es war nicht schlecht. Nicht schlecht ist gut genug. Es reicht, um zu bleiben. Um nicht zu betrügen. Um nichts zu bereuen. Nein, ich bereue sie nicht, die kleine Liebe meines Lebens.«
Anke und Corinna sahen ihre Freundin liebevoll an, und Corinna fragte: »War das die Antwort auf meine Frage von gestern? Warum du ihn nicht längst verlassen hast, wo er doch nie deine große Liebe war?«
Die kleine Liebe. Die große Liebe. Eigentlich grausam, dass es sie in mehreren Formaten gab. Oder?
Wenn Jean Ida ansah, die ihr voriges Leben nicht bereute, ehrlich nicht bereute, war er sich nicht mehr sicher.
»Und … wie sah er eure Zeit?«, fragte er dann doch.
»Ihm war die kleine Liebe nach fünfundzwanzig Jahren zu wenig. Er hat nun seine große Liebe gefunden. Sie ist siebzehn Jahre jünger als ich und gelenkig, die kann sich die Fußnägel mit dem Pinsel im Mund lackieren.«
Corinna und Anke prusteten los, dann lachte auch Ida.
Später spielten sie Karten. Zu Mitternacht brachte ein Radiosender Swing. Das fröhliche »Bei mir biste scheen«, das träumerische »Cape Cod« und dann auch Louis Armstrongs wehmütiges »We have all the time in the world«.
Max Jordan tanzte mit Ida – oder bewegte zumindest seine Füße millimeterweise –, und Corinna und Anke tanzten miteinander. Jean hielt sich am Stuhl fest.
All diese Lieder hatte er zuletzt gehört, als Manon noch lebte.
Wie scheußlich es sich dachte, dieses »als sie noch lebte«.
Als Ida sah, wie Perdu um Fassung rang, flüsterte sie Max etwas zu und schob ihn aus ihrem Arm.
»Na
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