Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
wollte.
Lesen: eine Reise ohne Ende. Eine lange, ja ewige Reise, auf der man milder und liebender und menschenfreundlicher wurde.
Max hatte diese Reise begonnen. Mit jedem Buch würde er mehr von der Welt, den Dingen und den Menschen in sich tragen.
Perdu begann zurückzublättern. Da, diese Stelle, die hatte er auch besonders gemocht.
»Die Liebe ist eine Wohnung. Alles in einer Wohnung sollte benutzt werden, nichts abgedeckt oder ›geschont‹. Nur derjenige lebt, der auch die Liebe ganz und gar bewohnt und sich vor keinem Zimmer, keiner Tür scheut. Sich zu streiten und sich zärtlich anzufassen, das ist beides gleich wichtig; sich aneinander festzuhalten und wieder wegzustoßen auch. Es ist existenziell, dass wirklich jedes Zimmer der Liebe genutzt wird. Sonst machen sich die Geister und Gerüche darin selbständig. Vernachlässigte Räume und Häuser können tückisch und stinkend werden …«
Nimmt mir die Liebe übel, weil ich mich weigerte, die Tür zu diesem Zimmer aufzuschließen, um dort … ja, was? Was soll ich tun? Manon einen Altar bauen? Adieu sagen? Was, bitte, was muss ich nur tun?
Jean Perdu legte das Buch neben den schlafenden Max. Nach einer Weile strich er dem jungen Mann das Haar aus der Stirn.
Dann suchte er leise ein paar Bücher heraus. Sie als Währung zu benutzen fiel ihm nicht leicht, denn er wusste um ihren Wert. Buchhändler vergaßen nie, dass Bücher noch ein sehr junges Mittel waren, sich auszudrücken, die Welt zu verändern und Tyrannen zu stürzen.
Wenn Monsieur Perdu Bücher sah, sah er nicht nur Geschichten, Ladennettopreise und seelenmedizinische Grundversorgung. Er sah Freiheit mit Flügeln aus Papier.
Wenig später lieh er sich eines der Hollandräder von Anke, Ida und Corinna und radelte über gewundene, leere schmale Straßen an Feldern, Pferdekoppeln und Kuhweiden vorbei in das nächste Dorf.
In der Boulangerie am Kirchplatz holte gerade eine rotwangige, muntere Bäckerstochter Baguette und Croissants aus dem Ofen.
Sie wirkte zufrieden, dort zu sein, wo sie war: in einer kleinen Bäckerei, in der im Sommer die Flussschiffer einfielen, im Rest des Jahres die Bauern, Winzer, Handwerker, Schlachter und Stadtflüchter aus dem Burgund, den Ardennen und der Champagne. Ab und an Tanz in der Mühle, Erntefeste, Kuchenwettbewerbe, Heimatverein. Haushaltshilfe bei den Künstlern sein, die hier in der Gegend lebten, in umgebauten Remisen und Ställen. Leben in Grün und Stille und unter Sternen und roten Monden.
Konnte das schon reichen, um satt vom Leben zu werden?
Perdu holte tief Luft, als er den altmodischen Laden betrat. Er hatte keine andere Wahl, als ihr sein ungewöhnliches Angebot zu machen.
»Bonjour, Mademoiselle, verzeihen Sie, lesen Sie gern?«
Nach kurzem Hin und Her »verkaufte« sie ihm eine Zeitung, Briefmarken und Postkarten mit einem Motiv der Marina von Saint-Mammès, außerdem Baguettes und Croissants – alles gegen ein einziges Buch: Verzauberter April, in dem vier englische Damen in ein italienisches Paradies flüchten.
»Das deckt meine Kosten voll und ganz«, versicherte sie treuherzig. Dann öffnete sie das Buch, hielt es vor ihre Nase und roch mit einem tiefen Atemzug an den Seiten. Glühend vor Genuss tauchte ihr Gesicht wieder auf.
»Riecht nach Eierkuchen, finde ich.« Sie versteckte das Buch sorgsam in der Schürzentasche. »Mein Vater sagt, lesen macht frech.« Sie lächelte entschuldigend.
Jean setzte sich wenig später an den Kirchbrunnen und riss ein warmes Croissant auseinander. Oh, wie es dampfte, wie gut das goldene, weiche Innere duftete. Er aß langsam und sah dem Dorf zu, wie es erwachte.
Lesen macht frech. O ja, fremder Vater, das tut es.
Sorgfältig schrieb Perdu ein paar Zeilen an Catherine – wohl wissend, dass Madame Rosalette eh mitlesen würde. Also schrieb er am besten gleich an alle.
Ma chère Catherine, liebe Mdme Rosalette (neue Haare? Wunderbar! Mokka?), werte Mdme Bomme und die gesamte No. 27,
bis auf weiteres bestellen Sie doch bitte beim Kollegen Voltaire et plus Ihre Bücher. Ich habe Sie weder verlassen noch vergessen. Doch es gibt noch ein paar unvollendete Kapitel, die ich zuerst noch einmal lesen … und beenden muss. Geister zähmen. – JP
War das zu karg, zu wenig knisternd?
Seine Gedanken jagten über die Felder und den Fluss nach Paris. Catherines Lächeln, ihr Stöhnen. Es war auf einmal so viel Gefühl in ihm. Er wusste kaum, wem sie eigentlich gehörte, diese jäh aufwallende Sehnsucht
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