Das Leben in 38 Tagen
mich plötzlich wieder auf zu Hause, auf meine liebe Familie! Mir schien,
als könnte ich erst jetzt die letzten Kilometer richtig genießen.
Der
Wind wehte noch recht ordentlich und trieb die tief hängenden grauen Wolken am
Himmel entlang, aber ab und zu zeigte sich auch die Sonne und es war angenehm,
im Schutze der hohen Bäume zu laufen. Die Landschaft war hier wirklich ganz
anders als in den vorherigen Landesteilen, aber, wie Martin prophezeit hatte,
sie gefiel mir.
28.
Vom Glück, in Galicien zu laufen
Es
gab hier zahlreiche kleine und verstreute Dörfer mit vielfach einzeln stehenden
Bauernhöfen, so wie es auch in Rente der Fall gewesen war. Die Häuser waren aus
dunklem Naturstein errichtet und mit Schiefer gedeckt. Meist bildeten senkrecht
gestellte Steinplatten die Grenze um Gärten, Gebäude und manchmal auch um
Felder. Eine typische galicische Besonderheit stellten die „Hórreos“, kleine
Häuschen auf vier Steinsäulen, dar. Diese wurden zur Trocknung von Mais und als
Vorratsspeicher für Getreide errichtet. Sie trugen ein spitzes Ziegel- oder
Schieferdach und eine dicke Steinplatte zwischen Säulen und Häuschen, um den
Mäusen das Hochklettern zu verwehren. Manche davon waren richtige kleine
Kunstwerke mit Türmchen, Spitzen und Figuren aus uralter Zeit. Die Dörfer sind
untereinander auf vielfältige Weise verbunden, über asphaltierte Sträßchen,
Pisten oder „ corredoiras “. Dies sind Wege aus großen
Steinen, die schon zu Zeiten der Römer existierten und dementsprechend
verwittert sind. Überall traf man hier auf diese Wege, die oft an Bächen
entlang durch grünes Laubwerk führten. Und immer wieder führten sie durch die
kleinen Dörfer, wo man natürlich auch wieder eine Bar fand und Schutz vor dem
Regen, den der Himmel heute ab und zu schickte...
Schon
kurz nach 13.00 Uhr sah ich den etwa zwanzig Kilometer von Rente entfernten
Stausee von Portomarín durch die Bäume schimmern. Ich war gespannt auf den Ort,
der vor fast fünfzig Jahren in den Fluten des Stausees verschwunden war und am
Hochufer wieder neu aufgebaut sein sollte. Auf dem Weg über die Staumauer in
die Stadt wehte so ein böiger Wind, dass es mich fast umgerissen hätte und ich
mich am Geländer festklammern musste. Aber der Blick über den Stausee mit den im
Wind tanzenden Wellen und den gerade aufblitzenden Sonnenstrahlen, die sich im
Wasser spiegelten, war herrlich. Die Silhouette der Stadt, die sich auf einen
Hügel hinaufzog, wurde bestimmt durch zahlreiche helle Häuser sowie jeweils
zwei alte Kirchen und Herrschaftshäuser, die originalgetreu aus den alten
Steinen wieder aufgebaut worden waren. Ein Stausee ist für mich immer wieder
faszinierend, aber er zeigt auch, welche Opfer für den Fortschritt oftmals
nötig sind, dass das Alte dem Neuen weichen muss und dabei manch
Unwiederbringliches zerstört wird...
Am
Ufer führte eine hohe Treppe in die Stadt und nun konnte man aus drei großen
Herbergen und mehreren kleinen Privatherbergen und Hotels eine Unterkunft
auswählen. Was für ein Luxus in dem nur 2000 Einwohner zählenden Ort! Ich
entschied mich gleich für die erste Herberge und traf sofort auf Bekannte:
Helga und Alfred aus Goslar, denen ich seit Molinaseca öfter begegnet war. Die
beiden freuten sich immer, wenn sie mich sahen, und ich fragte mich langsam, warum
mich besonders die älteren Frauen so nett fanden. Spürten sie etwa meine ewige
Sehnsucht nach einer Mutter?
Die
eingeschossige Herberge war fast neu und für etwa hundert Pilger ausgerichtet.
Der riesige Schlafraum war zwar nur mit Vorhängen etwas unterteilt, aber die
sanitären Einrichtungen machten einen sehr guten Eindruck und waren
ausnahmsweise sogar nach Männern und Frauen getrennt. Es gab eine moderne Küche
für Selbstverpfleger mit einem großen Speiseraum,
einen Aufenthaltsraum mit Sitzecken und außerdem Internet- und
Telefonanschluss. Unter der Dusche traf ich Helen aus Dänemark mit ihren
blonden Zöpfen. War Chris etwa auch hier?
Als
wir beide anschließend zusammen in die Stadt gingen, erzählte Helen mir eine
seltsame Geschichte. Sie hatte tatsächlich mit Chris noch einmal in dem
Bergdorf übernachtet, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Einen Tag später
hatten sie sich dann in Cacabelos endgültig getrennt, da er sich in Santiago
mit seiner Frau treffen wollte. Cacabelos war der Ort, an dem ich so furchtbar
fertig war und mir mit Sonja und Heidemarie eine Massage im Hof der Herberge
gegönnt hatte. Helen
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