Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Berger Schloß während seiner Predigt fallen lasse, doch der Geistliche schien diesmal eigentümlich gehemmt zu sprechen. Auffällig war nur, daß er am Schluß dieser Predigt wie üblich die Hände faltete, aber nicht mehr sagte: »Lasset uns beten für unseren allergnädigsten, erlauchten Landesvater, Seine Majestät, unseren vielgeliebten König Ludwig«, sondern einfach anhub: »Und lasset uns beten für unser gnädiges, erlauchtes Königshaus.« Der Pfarrer war kein Politiker. Die Kirche ging mit der Macht. Viele in den Betstühlen wurden finster und beteten nicht mit.
Beim Wirt Klostermaier saßen diesmal bereits sechs Gendarmen, als warteten sie. Die Bauern schauten sie haßtief an und machten kehrt. Auch beim Wiesmaier, in Leoni, ja sogar in der entfernten Rottmannshöhe – so wurde später bekannt – befänden sich solche Polizeitruppen. Die Erbitterung in der ganzen Pfarrei stieg von Stunde zu Stunde. Untätig hockten die Dörfler in ihren Stuben und spähten durch die Fenster. Manchmal hielten sie den Atem an und lauschten gespannt, als wollten sie feststellen, ob denn die Haufen der Gebirgler schon anmarschiert kämen. So verrann dieser düstere, verregnete Pfingsttag, und erst gegen Abend schien das regelmäßige Tropfen dünner und karger zu werden. Bald nach dem Gebetläuten wurde es dunkel. Mürrisch ging man zu Bett, doch niemand fand einen Schlaf. Der Maxl half diesmal sogar, wenn’s auch nicht nötig war, dem Gesellen in der Backstube.
Nach neun Uhr – auf einmal, ganz schwer, bang und fast flehend – fingen die Berger Zinnglocken zu läuten an, und alle schreckten auf. Ungeachtet aller behördlichen Verbote rannten die Leute auf die stockdunkle Straße und fingen laut und erregt zu fragen an. Da rief der Kommandant einer Gendarmerie-Abteilung frostig in die schwarze, triefende Nacht: »Seine Majestät, unser allergnädigster Herr und König, ist verschieden!« Eine stockende Sekunde lang blieb es totenstill. Es schien ungewiß, was sich ereignen würde. Da brachen etliche Weiber ins Knie und fingen tonlos zu beten an: »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe!« Und alle knieten zuletzt und beteten schaurig weiter: »Und das ewige Licht leuchte ihm!« Starr blieben die Gendarmen stehen und nahmen ihre Helme ab. Ihre Köpfe senkten sich. Man hörte leises Schluchzen und lautes Weinen. Jeder Berger vergoß Tränen. Es war ein zerstoßenes, erschüttertes Flehen. Sogar der Maxl und der Bäckergeselle liefen von der Arbeit weg. Es war nur gut, daß sie erst mit dem Teigkneten fertig geworden waren. Als die Betenden nach dem ersten Vaterunser wie auf ein stummes Zeichen aufgestanden und hinüber in die schnell erleuchtete, leere Kirche gegangen waren, kamen die beiden in die dämpfige Backstube zurück, blaß und mitgenommen.
»Ich wett’, sie haben ihn umgebracht!« sagte der Maxl kopfschüttelnd, »hm, auf einmal soll er so schwer krank gewesen sein? Das macht mir keiner vor! Weggeräumt haben sie ihn einfach! So eine Verbrecherbande! Solche Gauner! Und da soll sich das Volk nicht rühren, hmhm!« Sinnend starrte er vor sich hin. Vielleicht fiel ihm der Kernaller ein. Er hatte also wieder recht gehabt. Das war fast erschreckend.
»Das Volk, Herr Bäck’meister, wenn ich was sagen möcht’ – das Volk ist noch nie gefragt worden. Das hat bloß die Steuern zu zahlen!« näselte der Bäckergeselle Schießl aus sich heraus, und überrascht schaute ihn der Maxl an. Es stimmte – ja, das stimmte. »Morgen werden wir ja mehr wissen«, sagte er nur noch.
Ja, am andern Tag erfuhr man allerhand: gegen fünf oder sechs Uhr war der König mit dem ihm zugeteilten Leib-Irrenarzt von Gudden zu einem Spaziergang im Park aufgebrochen. Wachen waren nicht gefolgt, weil der Kranke zu irgendwelchen Besorgnissen keinen Anlaß gegeben hatte. In einem unerwarteten Augenblick aber war der riesenhafte König, nachdem er rasch Mantel und Jacke abgerissen hatte, auf den See zugeeilt, um – wie man später herausfinden wollte – schwimmend das andere Ufer zu erreichen und zu entfliehen. Der Irrenarzt war ihm gefolgt und hatte sich im Wasser an ihn geklammert. Der König hatte sich zu erwehren versucht und den Mann aller Wahrscheinlichkeit dabei niedergeschlagen, gewürgt und ertränkt. Jedenfalls zeigten sich an dem leblosen Arzt Spuren eines solchen Kampfes. Der König selber war aber sonderbarerweise zusammengekauert als Leiche in der Nähe aus dem Wasser gezogen worden. Ob ihn ein Herzschlag getroffen oder
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