Das Leben nach dem Happy End
fragte ich. »Ich fahre jetzt – ich muss nur noch eben die Sachen zum Auto bringen, dann fahre ich.«
»Hast du vor, selbst zu fahren?«
Ich verzichtete auf eine Antwort.
18
»Und die ganze Zeit«, so überlegte er, »lebten doch irgendwo
wirkliche Menschen und hatten wirkliche Erlebnisse …«
Zeit der Unschuld , Edith Wharton
Auf halbem Weg nach Hause hielt ich an einer Tankstelle und kaufte ein unheimliches Sandwich mit einer unheimlichen Wurst und etwas unheimlichem Weißen darin. Nachdem ich es verspeist hatte, trank ich eine ganze Flasche Wasser, saß im Halbdunkel des Autos und beobachtete die Leute, die im Schmuddelwetter tankten. Ich schaltete die Deckenlampe ein. Martin Guerre lag zusammengerollt in Fahrtrichtung. Neben mir auf dem Sitz befanden sich die Computertasche, die Briefe und das schwarze Notizbuch. »Das Wundervollste!« , schnaubte ich und sah wieder hinein, las hie und da von einer Reise, eine feste Handschrift mit blauem Kugelschreiber, keine Datumsangaben, nur Wochentage.
Wir warten auf einem finsteren Bahnhof, wir freuen uns darauf, nach Hause zu kommen, obwohl uns dort niemand erwartet, denn niemand erwartet uns, wir sind uns selbst genug, das wird einem doch wohl ein, zwei Mal in seinem Leben erlaubt sein. Wir hatten eingekauft wie für einen Waldspaziergang, eine Flasche Rotwein, ein mehlbestäubtes Brot mit brüchiger Kruste, zwei kleine Käse, einige rote, duftende Tomaten, die geplatzt waren und tropften. Wir hatten ein Abteil ganz für uns allein gefunden, und als der Schaffner unsere Fahrkarten betrachtete, waren wir schon angeheitert, aufgekratzt, und ich bildete mir ein, dass er uns auf eine wohlwollende Weise beneidete. Er erklärte uns etwas, das ich zwar verstand, aber nicht zu mir vordringen ließ, ich dachte, dass Zeit genug sei, oder dachte einfach nicht gründlich genug nach, denn wir mussten ja erst den mitgebrachten Proviant essen. Als ich zur Toilette wankte, schlingerte ich, was gleichermaßen an der Geschwindigkeit und am Wein und an der Freude lag, und zu meinem großen Vergnügen produzierte ich dort den größten und wohlgeformtesten Haufen, den ich je gesehen hatte. Ich betrachtete ihn mit Zufriedenheit und ärgerte mich darüber, dass ich niemandem etwas über diesen Haufen würde erzählen können, auch nicht Halland, und wollte ihn gerade von der Kloschüssel auf die Schienen entweichen lassen, als mir klar wurde, dass wir an einem Bahnhof hielten. Also war es sowohl verboten als auch widerwärtig, ihn hinauszulassen, und in meiner alkoholgetrübten Selbstgefälligkeit dachte ich mir, dass es vielleicht auch anderen vergönnt sein sollte, den Anblick des Haufens zu genießen. Möglicherweise würden sie dasselbe denken wie ich: dass ein so großer Haufen keinesfalls von einem ganz gewöhnlichen Menschen geschaffen worden sein könne. Auf dem Rückweg zu unseren Plätzen ging ich an durchweg leeren Abteilen vorüber, ich öffnete ein Fenster am Gang, steckte den Kopf hinaus, um zu sehen, wie weit wir gekommen waren, und rief schließlich zu Halland hinein, dass wir in den vorderen Bereich des Zuges gehen mussten, das hatte er gesagt, der Schaffner. Wir rannten mit unseren Koffern und dem Essen unterm Arm los, doch es war zu spät. Am vorderen Ende des Waggons war nur Leere. Wir waren abgekoppelt worden, der Zug war gefahren. Dennoch waren wir glücklich, und das war das Wundervollste .
Ich bekam keine Luft. Jetzt nicht mehr. Heimliche schwangere Nichten und geheime Zimmer, um was für ein Geheimnis ging es hier? Zicklein. Ich weiß, was in Hallands Kopf vor sich geht. Ich habe mich ja hemmungslos in ihn verliebt, natürlich weiß ich es also. Ich errate jeden noch so kleinen seiner Gedankensplitter, ich spüre ihn in meinem Körper, ohne ihn zu berühren, ich kann Schwankungen in seiner Stimme erfassen, wenn wir telefonieren, und weiß genau, was jede einzelne von ihnen bedeutet. Das ist die große Liebe. Und jetzt muss ich nach Hause; ich verließ das Auto, ging mit ausgreifenden Schritten zu einer Mülltonne, warf Flasche, Papier und Plastik hinein. Der Geruch von Tankstellen erinnert mich immer an etwas Gutes, nichts Konkretes, einfach nur etwas Gutes. Etwas Gutes, das mich offenbar zu Tränen rührte.
Auf dem restlichen Weg sang ich alle Fetzen von Kirchenliedern, die mir einfielen, und als mir die Texte ausgingen, sang ich unaufhörlich weiter zur selben Melodie, Halland, zum Teufel, zur Hölle, zum Henker, Halland, du großer, du kleiner, du
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