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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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erinnern können?, habe der Richter geseufzt. Der Großbauer, Annes Vater, einst mächtiger Ortsgruppenleiter, jetzt nur noch mächtiger Schweineborsten verfeuernder Hüter seiner Marillenbäume, war der Anführer der braunen Prügeltruppe gewesen. Jetzt sind er und der verprügelte Holzhändler schon wieder Freunde, die Nazis sind noch immer und schon wieder was im Dorf, der Großbauer kann dem Holzhändler gute Geschäfte zukommen lassen. Alle können sich an nichts erinnern. Jeder Zeuge und jeder Beschuldigte sagt das Gleiche. Ich weiß nicht, wer hingeschlagen hat und wie oft. Ich weiß nicht, ob es der war oder der, der mich gedroschen hat. Ohne sich abzusprechen schoben Opfer und Täter gemeinsam die Schuld auf jene, die nicht mehr greifbar waren. Ja, der hat getreten, der hat zugeschlagen, der hat zugestochen, und nannten dabei Namen von Männern, die dem Dorf abhandengekommen waren. Namen, die ein paar Jahre später auf dem neuen Kriegerdenkmal standen, weil sie für unsere Freiheit gestorben waren. Die Verhandlung war ein Witz, habe mein Vater gesagt, sagte meine Mutter.
    Oni Wa Soto! Ich lag bei Alida in Marathon und umklammerte sie die halbe Nacht lang und flüsterte auf sie ein oder hörte ihr zu, wenn sie flüsterte von ihren Jahren in Kyoto, die die schönsten ihres Lebens waren, sie sollte denken, ich wäre einer von diesen einfühlsamen Männern, die nicht nur an den Schlitz zwischen ihren Beinen denken, sondern zuhören und etwas von sich preisgeben, dabei dachte ich natürlich die ganze Zeit nur an ihren Schlitz, aber Panik machte mich einfühlsam, Panik, weil ich spürte, beim ersten Mal neben ihr im Bett, wie sich zwischen meinen Beinen nichts richtig erhärten wollte.
    Der Dämon des Altwerdens ließ sich nicht vertreiben. Sie war zärtlich und vorsichtig, und irgendwann einmal gelang es, den Beischlaf zu vollziehen, aber es war nicht wie früher, etwas hatte sich verändert, wegen des jahrelangen mönchsgleichen Lebens hatte ich es nicht wahrgenommen oder wahrnehmen wollen, Masturbation hatte nach wie vor funktioniert. Doch mit einer lebendigen Frau als Gegenüber anstatt der Fotos und Filme aus dem Netz war die Illusion nicht länger aufrechtzuerhalten. Ich sah ihre Nacktheit im spärlichen Licht, das die Straßenbeleuchtung durch das Fenster warf, ich berührte alles an ihr, mit Nase, Lippen, Fingern und Zunge, es erregte mich, aber die Erregung ließ die Schwellkörper in meinem Glied nicht mehr anschwellen zu voller Pracht wie einst im Mai. Das war vor drei Jahren. Nein, vier sind es schon. Wie wenig werden die Schwellkörper jetzt erst schwellen, sollte ich das Angebot des Wasserluchsweibchens annehmen.
    Ich wusste auf einmal in Alidas Bett, wer ich war. Ein alter Mann in einer sich immer schneller ändernden Welt. Wie Severinus beim Ende Westroms, wie Karl May bei seinen beiden einzigen echten Reisen in den Orient und den Wilden Westen, nachdem sie ihn als Zuchthäusler und falschen Doktor und Lügengeschichtenerzähler geoutet hatten und er entschlossen war, nun ein echter Schriftsteller zu werden, wie dieser falsche Old Shatterhand auf der Hotelaussichtsplattform über den Wasserwänden Niagaras und dieser falsche Kara Ben Nemsi auf der Luxusterrasse der Mena House Lodge zu Gizeh mit fantastischem Blick auf die Sonnenuntergangspyramiden. So wie sie war ich. Unfähig, das zu verstehen, das man so lange für das Eigene und Eigentliche gehalten hatte. Glanzlose Augen in einem fahlen Gesicht, bleich wie jenes des alterssteifgliedrigen William Cody in den kurzen Filmen von seinen Buffalo-Bill-Shows aus der Zeit des Beginns des Ersten Weltkriegs, wo er gemerkt haben musste, dass Thrill und Grandezza seines Rasenspektakels auf einmal käsig und schäbig aussahen.
    Ich muss für Alida Inselkind eine Enttäuschung gewesen sein, auch wenn sie nie etwas sagte oder auch nur eine Andeutung machte. Ich redete mir ein, Enttäuschung sei etwas Gutes, denn es sei notwendig, um sich nicht zu täuschen oder getäuscht zu werden. Aber Enttäuschung ist einfach nur Enttäuschung. Enttäuschung war, Edgar Broughton doch noch in einem Live-Konzert zu sehen, in einer Radfahrer-Short, in einem kleinen Kellerlokal im Neue-Deutsche-Welle-Wien der achtziger Jahre. Wir standen nahe an der Bühne, was leicht ging, da nur wenige Zuschauer gekommen waren, tranken Bier aus Pappbechern, lehnten die Joints ab, die immer wieder durch die Reihen gingen, und warteten. Und dann kamen sie, langsam stapften sie die Treppe hoch

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