Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
Vom Netzwerk:
langweilt, wieder und wieder dasselbe zu tun, seit fünfundvierzig Jahren. Er ist das Kind, das sein neues Spielzeugauto zerlegt, weil es das Kind anödet, dass es ist wie es ist. Darum macht man es kaputt. Damit zumindest irgendetwas geschieht. Oder er will austesten, dachte ich, was er uns noch zumuten kann, was alles wir uns gefallen lassen, wie weit er gehen muss, damit wir aufhören zu klatschen und die Erscheinung vorne auf der Bühne mit tiefster Rührung und Ergebenheit anzustarren wie ein nie zuvor gesehenes Wunder.
    In den plüschigen blauen Sessel gelehnt sagte ich mir, dass es irgendwie doch auch imponierend ist, wie er sich weigert, das Verlangen von uns, seinen alternden Bewunderern, nach gefühliger Nostalgieseligkeit zu bedienen. Gibt ja genug andere Gruppen, die das perfektionieren über die Jahrzehnte. Und dann stellte er plötzlich ein Juwel in das Gedröhn, zornig und in einem Herz und Hirn nicht öffnenden, sondern gewaltsam aufreißenden Stakkato rotzte er bellend den Glückspielern und ihren perlenbehängten Gattinnen und den Wellnessgästen ein Masters Of War vor die teuer beschuhten Füße, kompromisslos, wie es die Welt noch nicht gehört hat. Und siehe da, die Band in den billig wirkenden grauen Anzügen konnte plötzlich präzise und mit glasklarem Klang spielen. Doch die Beglückung dauerte nur ein paar Minuten, gleich folgten zerquälte zerbrochene Stücke im Scheppersound einer Tanzteekapelle, God said to Abraham, kill me a son.
    Nach den Zugaben, Thunder On The Mountain , übelst, klang wie der Versuch einer Schülerband, Blue Suede Shoes zu spielen, und All Along The Watchtower , wollte ich nicht gleich aufs Zimmer. Aber die zehn Rama-Restaurants waren völlig überfüllt. Die meisten Konzertbesucher nächtigten im Casino-Hotel, und sie fluteten nun natürlich alle gleichzeitig nach den letzten Klängen in die Speisesäle. Keine Chance, einen Platz zu bekommen. Alles vorreserviert. Nur in der Firestarter Lounge fand ich einen leeren Barhocker. Da saß ich eine Weile in der Felsbrocken- und Zedernholz-Dekoration und schwitzte, weil – Anfang August! – in allen drei aus groben Steinen gemauerten Kaminen große Feuer loderten, und fühlte mich todunglücklich. Dasselbe Gefühl wie in Linz damals, nach dem Verlassen der Sporthalle. Die Dylan’sche Post-Konzert-Depression.
    Die Kellnerin brachte mir ein Glas Bier und Chicken Wings Buffalo Style, Hähnchenkeulen, vor dem Grillen mariniert in einer Brühe aus Zucker und Knoblauch, mein Gott ja, Zucker, immer Zucker, dazu eine Soße aus Blauschimmelkäse, mit einem eigenen Schälchen für eine Handvoll Karotten- und Sellerie-Stiftchen. Aus den Lautsprechern kam Dylan, wie originell. Knockin’ On Heavens Door , in der Version mit den Grateful Dead, es gibt keine Zufälle, wie May sagt. So unendlich langsam spielten sie es, dass man jeden Augenblick fürchtete, die ganze Sache würde demnächst zum Stillstand kommen.
    Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich sah, dass meine Grundbefindlichkeit eine vollkommen schizoide ist. Weil ich auf einmal verstand, was Dylan tut. Er ist ein Maniker der Veränderung, und zwar ausschließlich Maniker. Ich bin bipolar verfasst. Es zieht mich auf der einen Seite unwiderstehlich und ohne Chance auf Gegenwehr zu Veränderung; vom Dorf mit seinen Starrheiten und Festigkeiten wollte ich weg, nur weg, so früh wie möglich, ich wollte das Andere, das Beeindruckendere, das Größere. Weil es die Hoffnung beinhaltete, es wäre das Bessere. Zugleich aber bin ich zutiefst gekränkt, weil nichts mehr so ist wie es war.
    Ich schwitzte wie ein Schwein vor den drei Kaminfeuern und konnte dennoch nicht weggehen, weil ich sah, was los war. Ich wollte Veränderung. Ich hasste Veränderung. Sie machte mir Angst. Ihre Abwesenheit machte mich depressiv. Für den Zimmerman Robert aus Duluth ist das keine Frage. The Times They Are a Changing . Er sah es, er besang es grandios, und er sah, dass es gut war. Ich sehe, dass sich alles ändert, und leide. Doch wenn alles beim Alten bleibt, leide ich ebenfalls. Bipolarität ist mein Problem.
    Darum hatte ich Ja gesagt, wenn ich ganz ehrlich bin, zu dem Auftrag, einen Aufsatz über Severinus zu schreiben. Weil es bei dessen Geschichte um die allergrößte Veränderung überhaupt gegangen war. Und sie hatte dort stattgefunden, wo es etwas mit mir zu tun hatte, in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Dort wollte ich hingehen und nachsehen. Und leiden, wenn es

Weitere Kostenlose Bücher