Das Legat der Toten
Peter Ritter als erster betrat. Er hatte abermals eine Tür öffnen müssen, und hier sah es schon anders aus. An den Wänden waren Eisenregale angebracht worden, auf denen einige Gegenstände lagen – Messer, Sägen und Hämmer. Aber auch Kerzen und Büchsen mit Nahrung. Einen Kocher sah Miranda ebenfalls, so daß sich die beiden Männer hier Essen hatten aufwärmen können.
Sie blieb stehen, als sich Peter Ritter umdrehte. »Jetzt sind wir am Ziel«, sagte er.
Miranda schüttelte leicht den Kopf. Sie konnte es nicht glauben. »In dieser Werkstatt?«
»Ja.«
»Hier sollen wir Booker finden?«
Ritter nickte.
Sie schaute sich um. »Wo denn? Ich sehe nur uns drei, aber keine Spur von diesem Unbekannten.«
»Er ist hier. Darauf kannst du dich verlassen!« erklärte Ritter und deutete nach vom.
Miranda folgte mit einem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger. Sie fror trotz des Mantels und zog die Schultern hoch. Das Ziel, auf das der Zeigefinger wies, war eine Wand – nur eine Wand.
» Sorry , aber...«
»Du wirst es gleich verstehen«, sagte Ritter. Er trat zur Seite und bewegte einen dieser alten Schalter. Sofort nach dem Klicken änderte sich etwas in dieser seltsamen Wand. Genau in der Mitte erhellte sich ein von der Decke bis zum Boden reichendes Rechteck. Helles Licht schimmerte dahinter, weiß und gelb, ineinander verlaufend.
Todd und Ritter kannten sich aus. Miranda nicht.
Noch immer fühlte sie sich unwissend und verloren, aber das änderte sich, denn abermals strich etwas über ihre Stirn hinweg.
Der leichte Druck war nicht zu leugnen. Aus dem Unsichtbaren hervor entstand wieder das Kreuz auf ihrer Stirn, und sie sah, daß bei den Männern das gleiche geschah.
»Booker«, flüsterte Todd. »Er hat uns gesehen. Er weiß, daß wir zusammen sind.«
»Kommt er denn auch?«
»Schau nur nach vorn!« sagte Todd.
Sie tat es. Ihr Ziel war das helle Lichtviereck, und dort sah sie plötzlich einen Schatten. Zunächst nur unförmig, dann schälte er sich aus der Lichtmasse hervor, und ihr Herz schlug schneller, je mehr Einzelheiten sie erkannte.
Booker war kein Geist, er war ein Mensch. Aber er stand nicht normal auf seinen Füßen, sondern hing als fast nackte Gestalt kopfüber nach unten, die Beine zusammengelegt, die Arme ausgestreckt. Gehalten wurde er von starken und straffen Bändern, die mit seinen Beinen und den Händen verbunden waren.
Der Kopf hing nach unten. Der Mann sah aus, als wäre er nicht mehr am Leben, aber das täuschte.
Seine Augen bewegten sich. Er zwinkerte.
Hinter Miranda lachte Todd. »Tritt ruhig näher an die Wand heran, geh schon.«
»Und dann?«
»Wirst du ihn besser sehen.«
Miranda Wayne blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Sie benötigte nur drei Schritte, um dicht vor dem hellen Ausschnitt stehen zu bleiben. Sie wußte nicht, was es bedeuten sollte. Vor dieser halbnackten Gestalt fürchtete sie sich, aber es ging auch etwas von ihr aus, das sie in einen Bann zog.
Noch näher drückte sie sich an die seltsame Scheibe heran. Und dann blickte sie nach unten auf das Gesicht.
Es traf sie wie ein Schlag in den Magen. Nicht allein der Anblick des Gesichts, das alt und zugleich alterslos aussah, nein, es war etwas anderes.
Sie hatte einen Blick auf die Kehle werfen können.
Jemand hatte sie durchgeschnitten!
***
Miranda Wayne schloß die Augen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Sie schwankte, mußte sich sehr zusammenreißen, um nicht zur Seite zu fallen. Ihr Puls raste.
Hier wurde mit einem Toten kommuniziert. Ein Toter war ihr Boß geworden. Eine alte an Seilen und Drähten hängende Leiche führte das Legat der Toten an.
Sie begriff es nicht, aber sie merkte, wie sich der Druck auf ihrer Stirn ausbreitete. Das Kreuz schien plötzlich zu brennen oder zu schmelzen. Etwas passierte auch in ihrem Kopf. Es drangen fremde Gedanken in sie hinein, die sich zu Worten formten und daraus einen Satz bildeten.
»Das Legat der Toten ist perfekt!«
Miranda hockte noch immer vor diesem schaurigen Bild. Sie schwankte und hielt sich mit Mühe in dieser Lage. Ihr Atem ging stoßweise. Sie merkte, daß die normale Welt um sie herum verschwamm. Es gab nur den in den Seilen hängenden Toten, dessen Kehle durchgeschnitten worden war.
Die Frau wußte, daß sie etwas sagen mußte. Der andere verlangte es, aber es fehlten ihr einfach die Worte. Sie brachte nichts mehr über die Lippen und ließ die Gedanken deshalb
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