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Das Legat der Toten

Das Legat der Toten

Titel: Das Legat der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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es strahlte keine Wärme ab und konnte durchaus zur anderen Seite gehören.
    Mit der freien Hand berührte ich den hellen Ausschnitt. Ich hatte schon erlebt, daß sich plötzlich Tore in eine andere Dimension hin öffneten. Hier war das nicht so. Der Widerstand blieb, nur der Ausschnitt der Wand hatte sich verändert.
    Für mich war er nicht mehr zweidimensional. Ich hatte eher das Gefühl, daß er sich in die Tiefe zog. So stand ich fast am Beginn eines Flurs oder Gangs, der irgendwo im Nirgendwo endete.
    War das Booker’s Geheimnis?
    Zumindest ein Teil dessen. Ich hoffte, daß noch etwas passieren würde und nicht alles beendet war, bevor es richtig begonnen hatte. Meine Hoffnung beruhte auf der relativen Unruhe des Lichts. Es war so hell, aber es war nicht unbedingt starr. Es schien sich leicht zu bewegen und in einem ständigen Fluß zu sein. Das Zucken, das Vibrieren, das helle, kalte Leuchten hatte etwas zu bedeuten.
    Und ich lag richtig.
    Ob fern oder nah, das fand ich nicht heraus, aber im Licht erschien eine Gestalt. Sie schwankte leicht hin und her. Sie hing mit dem Kopf nach unten, sie war sogar gefesselt, die Beine zusammengelegt, die Arme ausgebreitet, den Kopf nach unten gedrückt.
    Ich dachte an die Kreuze, die an den Tatorten gefunden worden waren. Diese Gestalt hatte eine Lage angenommen, die so etwas wie ein auf den Kopf gestelltes Kreuz versinnbildlichen sollte.
    Die Gestalt schwebte so nahe heran, daß ich Einzelheiten sah. Man hatte ihr die Kleidung vom Leib gerissen. Sie war nackt bis auf einen Lendenschurz. Auf dem Kopf wuchs dichtes, blondes Haar. Das Gesicht sah alt und trotzdem irgendwie auch jung aus, aber ich entdeckte noch mehr.
    Die Kehle war durchgeschnitten worden!
    So hätte man Booker damals getötet. Wieder sah ich die Zeitungsausschnitte vor meinem geistigen Auge. Die Reporter damals hatten nicht gelogen, aber er war nicht tot. Zwar bewegte er sich nicht, doch seine »Leiche« mußte irgendwo gelandet sein, nur nicht da, wo sie hingehörte: in ein Grab, um zu vermodern.
    Er wußte, daß ich in der Nähe war, denn er hatte seine Augen verdreht und schaute von unten nach oben, um mich ansehen zu können. So hielt der Tote mit mir Kontakt, und er brachte mir auch den endgültigen Beweis, daß er seinen eigenen Tod überwunden hatte. Die Lippen verzogen sich in die Breite, und auf dem Gesicht erschien ein impertinentes Grinsen.
    Booker wußte Bescheid. Er sah mich ebenso wie ich ihn sah. Wir standen beide zum Greifen nahe, und trotzdem trennten uns wahre Lichtjahre. Wenn er nicht wollte, kam ich nicht an ihn heran.
    Booker hing in den Seilen wie in einem Netz. Aus eigener Kraft würde er sich nicht befreien können, zumindest wenn man menschliche Maßstäbe anlegte.
    Die konnte man bei ihm vergessen, denn wie ein Turner bewegte er sich und drehte seinen Körper so, daß er wie jeder Mensch normal auf den Füßen stehen konnte.
    Jetzt schauten wir uns an.
    Ich hielt noch immer mein Kreuz fest. Sicherlich sah er es, aber er fürchtete sich nicht davor. Sein Grinsen wurde noch breiter, und dann hörte ich seine ersten Worte: »Ich bin Booker. Ich bin wieder da. Das Jahrhundert ist fast vorbei. Und damit ist auch meine Zeit wiedergekommen. Ich werde London in eine mächtige Hölle verwandeln und den Menschen die Panik geben...«
    ***
    Es waren starke Worte gewesen, auf die ich normalerweise gelassener reagiert hätte. Schon öfter hatte ich Prophezeiungen dieser Art erlebt. Nur war es hier anders. Dieser Booker hatte es schon einmal getan. Im ausgehenden letzten Jahrhundert. Da hatte er seine Zeichen gesetzt, das war überliefert worden, und der Teufel selbst mußte ihn all die Zeit kalt gehalten haben, um ihn jetzt wieder in den Kampf zu schicken.
    »Das Legat der Toten ist nicht vernichtet«, flüsterte er mir zu. »Auch du mit dem Kreuz wirst es nicht schaffen. Ich bin die Apokalypse. Ich werde auslöschen, was auszulöschen ist...«
    »Du bist also Booker?« fragte ich ihn.
    »Ja.«
    »Und du hast überlebt?«
    »Das siehst du doch. Man hat mir damals die Kehle durchgeschnitten und mich ausbluten lassen, aber keiner wußte, wer mich tatsächlich schützte. Ich bin jemand gewesen, der schon seit alten Zeiten existiert. Man kann mich nicht einfach so vernichten, denn ich habe mich wieder zurückgezogen, um mit großer Geduld auf die neue Zeitenwende zu warten. Für euch Menschen ist die Zeit viel, für mich ist sie nichts. Vor allen Dingen nicht hundert Jahre. Ich stehe über der Zeit.

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