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Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition)

Titel: Das leichte Leben: Eine Geschichte aus der Vorstadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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Erschöpfung gefällt, dieser Tag, von Georgs Besuch bis zu Veronikas Botschaft mittels Kinderteller, hatte ihre Energien restlos geplündert.
    Frieder streichelte vorsichtig ihr Haar und betrachtete ihre Wimpern. Einmal, vor Jahren, im Bett, hatte sie ihm gesagt, dass sie schon als Kind unter ihren kurzen, dünnen Wimpern gelitten hatte. Sie hatte schöne Wimpern mit weiblicher Schönheit gleichgesetzt. Und sie tat es noch in der Pubertät, als ihre Klassenkameradinnen nur von ihrem Busen redeten und flehentliche Gebete gen Himmel schickten und geheimnisvolle Salben vor dem Zubettgehen auf ihren Oberkörper strichen, um in eine höhere Körbchengröße zu wechseln. Daria wusste natürlich längst, wo Männer gemeinhin hinschauen, und sie wusste, dass sie mit ihrem Körper mehr als zufrieden sein konnte, aber nie hatte sie die Angst, in Wahrheit doch ein Aschenputtel zu sein, ganz verlassen.
    Ihr Mund öffnete sich leicht, ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging langsam und regelmäßig. Ihr Kopf lag seitlich auf Frieders Oberschenkel, eine männliche Phantasie, fest schlafend.
     
    In Gerding gibt es eine Dorf- und eine Hauptstraße. Sie schlängeln sich von Nord nach Süd zunächst nebeneinander, bis sie sich in der Ortsmitte kreuzen und wie die Arme einer geöffneten Schere wieder auseinandergehen. Beide kreuzen die Münchenerstraße, die eigentliche Hauptstraße, die von Gerding tatsächlich, ihren Namen mehrfach wechselnd, bis in die Münchener Innenstadt führt.
    Auch in seinem vierten Jahr hatte Frieder noch Orientierungsprobleme in Gerding. Warum gab es überhaupt eine Dorf- und eine Hauptstraße? Sollte eine Dorfstraße nicht mitten durchs Dorf führen und also die Hauptstraße sein? Er konnte Geschäfte keinem Straßennamen zuordnen und bewegte sich als Autofahrer nach groben Orientierungspunkten wie der Schule und dem Rathaus sowie der Ahnung, dass er irgendwann links oder rechts abbiegen müsste.
    Am Samstagvormittag erledigte Frieder den Großeinkauf. Zwei Getränkekästen vibrierten im Kofferraum, als er den Volvo rückwärts aus der Garage fuhr. Die Einkaufsliste lag auf dem Beifahrersitz, Daria hatte sie säuberlich mit Bleistift auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier geschrieben, die einzelnen Artikel zu Kolonnen zusammengefasst, die verschiedenen Geschäfte durch einen breiten Querstrich voneinander abgesetzt. Unter den letzten Querstrich hatte sie zwei Herzen gezeichnet, mit rotem Filzstift, ein größeres und ein kleineres, Darias Herz und Svenjas Herz. Frieder fühlte ein diffuses Gemisch von Schuld und Kummer, als läge ihrer aller Schicksal allein in seinen Händen.
    Die Liste schickte ihn an vier verschiedene Orte. Frieder beschloss, mit dem Gemüsehändler anzufangen und dem Supermarkt aufzuhören; dort konnte er mögliche Lücken aus den kleinen Geschäften füllen. Er fuhr in Richtung S-Bahn und musste am Zebrastreifen halten, weil ein Mann in einer Trainingshose und einem weißen ärmellosen T-Shirt die Straße überqueren wollte. Er war vielleicht Anfang dreißig, muskulös, an den Oberarmen tätowiert, hatte lockige, ungekämmte Haare, war unrasiert, seine nackten Füße steckten in einem Paar blau-weißer Badeschlappen. In Höhe von Frieders Volvo hob er zum Dank die rechte Hand, die eine Brötchentüte hielt – gleich an der S-Bahn war die Filiale einer Bäckereikette. Dazu lächelte, nein, grinste er Frieder an, ein Grinsen unter Männern, das von einer tollen Nacht erzählen sollte, und ein Grinsen, das fragte: Kumpel, wie war eigentlich deine?
    Frieder fiel in diese Frage, und er fiel so tief, dass ihn erst das Hupen seines Hintermannes ans Weiterfahren erinnerte. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie der Mann im rechten der beiden achtstöckigen Hochhäuser gegenüber verschwand. Den Bahnhof fand Frieder in einer einfallslosen Weise misslungen, ein klassisches Ensemble aus langgestrecktem rechteckigem Glasdach, einem kleinen Springbrunnen, einem Kiosk, einem türkischen Fast-Food, einer Bäckerei, einem Taxistand und Halteplätzen für die drei Linienbusse. Die Gleise verliefen unterirdisch, glücklicherweise. Der Vorplatz war nicht billig gebaut, nicht hässlich, nur sprach aus jedem Stein, aus jedem Winkel und aus jedem Farbton der Wille, keinen Widerspruch zu erregen. In den Vororten, dachte Frieder, bauen die Ingenieure, in den Städten die Architekten.
    Darias bevorzugter Gemüsehändler lag an einem nicht asphaltierten Nebenweg der Dorfstraße. Das Geschäft selbst war

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