Das letzte Einhorn
Gedichte schreiben, und noch nie, zuvor hatte er den Wunsch verspürt, Gedichte zu schreiben.
»Du magst kommen und gehen, wie es dir beliebt«, sagte Haggard zu der Lady Amalthea. »Es mag töricht von mir gewesen sein, dich einzulassen, doch bin ich nicht so töricht, dir diese oder jene Tür zu verbieten. Meine Geheimnisse hüten sich selber – werden die deinen es auch tun? Was siehst du dir an?«
»Ich sehe mir das Meer an«, erwiderte die Lady Amalthea.
»Ja, das Meer ist immer gut«, sagte der König. »Eines Tages werden wir es gemeinsam betrachten.« Er ging langsam zur Tür. »Es wird seltsam sein, ein Wesen im Schloss zu haben, dessen Gegenwart Lir dazu bringt mich zum ersten Mal, seit er fünf Jahre alt war, ›Vater‹ zu nennen.«
»Sechs«, sagte Prinz Lir, »ich war sechs.«
»Fünf oder sechs«, erwiderte Haggard, »es hatte schon lange davor aufgehört, mich glücklich zu machen, und es macht mich auch jetzt nicht glücklich. Noch hat sich durch ihre Gegenwart nichts geändert.« Er verschwand fast so geräuschlos wie Mabruk, nur auf der Treppe konnten sie seine blechernen Stiefel klirren hören.
Molly Grue ging behutsam zur Lady Amalthea hinüber, stellte sich neben sie ans Fenster. »Was siehst du?«, wollte sie wissen. Schmendrick lehnte gegen den Thron. beäugte Prinz Ur aus seinen großen grünen Augen. In der Ferne erklang im Tal von Hagsgate wieder das grollende Gebrüll.
»Ich zeig’ euch eure Zimmer«, sagte Prinz Lir. »Habt ihr Hunger? Ich hol’ euch gern etwas zum Essen. Ich weiß, wo ein Ballen Stoff liegt, feiner Atlas. Man könnte ein Kleid daraus machen.«
Niemand gab ihm eine Antwort. Die Nacht verschlang seine Worte, die Lady Amalthea, so schien ihm, sah ihn nicht, hörte ihn nicht. Sie stand reglos da, und dennoch war er sicher, dass sie sich von ihm, der stillstand, so unaufhaltsam wie der Mond entfernte. »Ich möchte dir helfen«, sagte Prinz Lir, »gibt es denn gar nichts, wobei ich dir helfen könnte?«
»Kann ich dir bei irgend etwas helfen?« fragte Prinz Lir. »Im Augenblick fällt mir nichts mehr ein«, sagte, Molly Grue. »Ich habe nur das Wasser gebraucht. Es sei denn, du möchtest die Kartoffeln schälen, das wäre mir recht.«
»Nein, so hab’ ich das nicht gemeint. Nein, nein, ich werde es gern tun, wenn du’s möchtest, ich habe gerade in Gedanken mit ihr gesprochen. Wenn ich mit ihr spreche, frage ich sie immer dasselbe.«
»Setz dich hin und schäl mir ein paar Kartoffeln«, meinte Molly. »Das wird dich ein wenig ablenken und deine Hände beschäftigen.« Sie saßen in der Küche, einem nasskalten Loch, das stark nach verfaulenden Kartoffeln und gärenden Rüben roch. In einer Ecke war ein Dutzend irdener Teller aufgestapelt, unter einem Dreifuß flackerte ein kümmerliches Feuer, das einen großen Topf trüben Wassers zum Kochen zu bringen versuchte. Molly saß an einem rohen Tisch, der mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, mit Lauch und anderem Gemüse bedeckt war, das meiste davon alt und schlaff. Prinz Lir stand vor ihr, wiegte sich auf seinen langen Beinen hin und her und knetete seine großen, weichen Finger.
»Ich hab’ heut morgen wieder einen Drachen erschlagen«, brachte er nach einiger Zeit hervor.
»Das ist nett, das ist sehr nett«, antwortete Molly. »Wie viele sind es jetzt?«
»Fünf. Der von heute morgen war kleiner als die anderen, doch hat er mir mehr Mühe gemacht. Zu Fuß bin ich nicht an ihn rangekommen, ich musste mit der Lanze arbeiten, mein Pferd hat’s bös erwischt. Mit dem Pferd ging es dann seltsam …« Molly unterbrach ihn: »Setz dich, Eure Hoheit, und hör mit dem Gezappel auf, es kribbelt mich schon überall, wenn ich dir nur zusehe.« Prinz Lir setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und fing verdrossen an, Kartoffeln zu schälen. Molly betrachtete ihn mit einem verhaltenen Lächeln. »Ich hab’ ihr den Kopf gebracht. Sie war in ihrem Zimmer, wie gewöhnlich. Ich schleppte diesen Kopf die ganzen Treppen rauf, um ihn ihr zu Füßen zu legen.« Er seufzte und schnitt sich mit dem Dolch in den Finger. »Verflucht! Es hat mir nichts ausgemacht. Den ganzen Weg die Treppen hinauf war es ein Drachenkopf, das stolzeste Geschenk, das man einem Menschen machen kann. Doch als sie ihn ansah, da war es plötzlich nur noch ein kläglicher Mischmasch aus Hörnern und Schuppen, knorpeliger Zunge und blutigen Augen. Ich fühlte mich wie ein Bauernmetzger, der seinem Schatz einen netten
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