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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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eine Weise, die, wie ich inzwischen erkannt hatte, charakteristisch für ihn war. Eigenartig, dachte ich, wie eine Seite seines Gesichts völlig normal erscheint, sogar sympathisch, und die andere bösartig und krank. Es war, als würde man Dr.   Jekyll und Mr.   Hyde im gleichen Moment begegnen.
    «Ich war in Tucumán», sagte ich liebenswürdig. «Also dachte ich, ich komme vorbei und sehe, wie es Ihnen geht.» Ich öffnete meine Tasche und nahm eine Stange Senior Service hervor. «Hier, ich hab Ihnen Zigaretten mitgebracht. Es sind zwar englische, aber ich dachte, in der Not frisst der Teufel Fliegen.»
    Eichmann grunzte ein zögerliches «Danke sehr» und nahm die Stange entgegen. «Ich denke, Sie kommen besser ins Haus», sagte er widerwillig.
    Er stieß eine breite Holztür auf, deren grüne Lackierung dringend erneuerungsbedürftig war, und wir traten ein. Das Äußere der «Villa» ließ nichts Gutes ahnen. Es war ein wenig so, als hätte man die Sandburg eines Kindes am Strand «Schloss Neuschwanstein» genannt. Das Innere jedoch sah ein wenig besser aus. Die Wände waren verputzt, die Böden eben, mit Steingut gefliest und mit Indio-Teppichen ausgelegt. Zwei kleine, vergitterte Fenster vermittelten einen Eindruck wie in einem Gefängnis. Eichmann mochte der alliierten Justiz entkommen sein, doch er lebte kaum in Saus und Braus. Hinter einer Tür spähte eine halbnackte Frau hervor. Eichmann bedeutete ihr mit einem verärgerten Kopfnicken, sich zurückzuziehen, und sie gehorchte.
    Ich trat zu einem der Fenster und sah hinaus auf einen kleinen, gepflegten Garten. Es gab ein paar Ställe mit Kaninchen, die er wohl als Fleischlieferanten hielt. Dahinter stand ein alter schwarzer DeSoto mit drei Rädern. Eichmann schien nicht auf eine schnelle Flucht vorbereitet zu sein.
    Er nahm einen heißen Kessel von einem schmiedeeisernen Ofen und goss Wasser in zwei kleine ausgehöhlte Flaschenkürbisse. «Maté?», fragte er.
    «Ja, gern.» Ich hatte das Zeug noch nicht probiert, seit ich in Argentinien war, doch jeder im Land trank es.
    Er steckte kleine metallene Trinkhalme in die Kürbisse und reichte jedem von uns einen.
    Das Zeug war zwar gezuckert, doch es schmeckte immer noch bitter. Wie grüner Tee mit Schaum. Ähnlich wie Trinkwasser mit einer Zigarette darin, dachte ich, doch Geller schien das Zeug zu mögen, genau wie Eichmann. Sobald Geller seinen Kürbis geleert hatte, reichte er ihn unserem Gastgeber, der ein wenig heißes Wasser hinzufügte und – ohne den Trinkhalm zu wechseln – selbst aus dem Kürbis trank.
    «Was bringt Sie den weiten Weg hier heraus?», fragte er schließlich. «Bestimmt steckt mehr dahinter als ein Freundschaftsbesuch.»
    «Ich arbeite für den SIDE, den peronistischen Geheimdienst», sagte ich. Sein Augenlid zuckte wie eine Glühbirne kurz vor dem Durchbrennen. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch wir wussten alle, was er dachte. Da saß er, Adolf Eichmann, der ehemalige S S-Obersturmbannführer und enge Vertraute von Reinhard Heydrich, und führte einfache Vermessungsaufgaben am Ende der Welt durch, während ich eine Position von nicht unbeträchtlicher Macht und nicht geringem Einfluss auf einem Gebiet bekleidete, das Eichmann wahrscheinlich als sein eigenes betrachtete. Gunther, der widerwillige S S-Mann und politische Gegner, hatte die Stelle inne, die ihm, Eichmann, viel eher zugestanden hätte. Er sagte nichts. Er versuchte sogar ein Lächeln. Es sah aus, als hätte sich ein Fremdkörper unter seine Zahnbrücke verirrt.
    «Meine Aufgabe besteht darin, zu entscheiden, wer von den alten Kameraden ein Führungszeugnis verdient hat», sagte ich. «Dieses Zeugnis ist erforderlich, um einen argentinischen Reisepass zu beantragen.»
    «Ich hätte erwartet, dass Loyalität gegenüber Ihrem Blut und Ihr Eid als S S-Mann ausreichen, um jede derartige Dokumentation zu einer reinen Formalität zu machen», sagte er steif. Und fügte eine Spur sanfter hinzu: «Schließlich sitzen wir hier alle in der gleichen Tinte, oder nicht?» Er saugte geräuschvoll den letzten Rest Maté aus dem Kürbis wie ein Kind, das ein Limonadenglas bis auf den Grund leert.
    «Oberflächlich betrachtet, trifft das durchaus zu», räumte ich ein. «Allerdings steht die Regierung Perón schon jetzt unter beträchtlichem Druck seitens der Vereinigten Staaten   …»
    «Sie meinen wohl, seitens der Juden.»
    «…   im Hinterhof sauberzumachen. Es steht zwar nicht zu befürchten, dass einer von uns

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