Das letzte Hemd
ganz verstanden – und kam nicht umhin zu denken, dass es, egal welche
Krankheit einen hierher gebracht hatte, die Heilung sicher nicht beschleunigte,
wenn man sich schon am Vormittag vor die Tür schleppte und nach Herzenslust
quarzte. Als ehemaliger Kettenraucher wurde auch Rosenmair mit den Jahren immer
militanter, eine Tatsache, die ihm überhaupt nichts ausmachte, wenn er ehrlich
war.
Er ging durch die Tür und versuchte, sich an den vielen Schildern zu
orientieren. Am liebsten wäre er gleich wieder gegangen. Schon der Geruch
reichte ihm. Rosenmair war nicht sehr gern in Krankenhäusern, aber wer war das
schon? Er hatte noch nie von jemandem gehört, der freudestrahlend ankündigte,
heute einen Krankenhausbesuch zu machen. Rosenmair nahm sich vor, das Positive
der aktuellen Situation zu sehen. Allerdings konnte er gerade so gar nichts
Positives erkennen, selbst wenn er sich anstrengte.
Er stieg aus dem Fahrstuhl, bog um die Ecke – und wäre fast mit Frau
Kolbich zusammengestoßen, die gerade aus der anderen Richtung kam. Sie hob vor
Schreck kurz die Arme, lächelte dann aber erfreut. »Ach, Herr Rosenmair, was
haben Sie mich erschreckt. Was machen Sie denn hier?« Gleich darauf wechselte
ihre Miene den Ausdruck, und sie sah ihn mit einer Mischung aus Besorgtheit und
angegriffenem Pflichtbewusstsein an. »Ist etwas mit den Hemden? Konnte Frau
Kindermann nicht kommen? Ich hab’s ihr doch ein paarmal gesagt …«
Rosenmair griff beschwichtigend nach ihrem Arm und versuchte, sie zu
beruhigen. »Nein, alles in Ordnung, na ja, vielleicht nicht in Ordnung – aber
Frau Kindermann war da, und das ist sie wahrscheinlich auch jetzt noch.« Er sah
auf die Uhr, fast ein wenig flehentlich, als könnten die Zeiger dafür sorgen,
dass diese nervige Frau so bald wie möglich sein Haus wieder verließ. Dann
erinnerte er sich wieder daran, wo er sich gerade befand. »Aber Frau Kolbich,
viel wichtiger ist: Wie geht es Ihrem Mann?« Er blickte in die Richtung, aus
der sie gekommen war. »Sie waren doch sicher gerade bei ihm?«
Frau Kolbich konnte nur nicken, und Rosenmair schob sie sanft
Richtung Fahrstuhl. Irgendwo hatte er etwas von einer Cafeteria gelesen, und
Frau Kolbich ließ sich auch ganz bereitwillig dorthin bugsieren.
Die Cafeteria hatte den Charme eines OP -Saals – das dachte Rosenmair jedenfalls im ersten Moment. Echte Vergleiche konnte er
nicht anstellen, er war schließlich noch nie bei Bewusstsein in einem OP -Saal gewesen. Obwohl, das stimmte nicht ganz, er
erinnerte sich an einen Ortstermin in seiner Zeit als Richter, bei einem
ziemlich kniffligen Fall. Er lächelte kurz, dann sah er sich weiter um. Nein,
zum Lächeln gab es hier nun wirklich keinen Anlass. Und der OP -Saal damals hatte eindeutig mehr Charme und
Atmosphäre besessen als das hier.
Er suchte sich eine ruhige Ecke mit Frau Kolbich, holte sich einen
Becher Kaffee und ihr einen Tee. An den anderen Tischen saßen bunt verteilt
Patienten, Besucher, Angestellte. Niemand beachtete den anderen, was Rosenmair
nur recht war. So vorsichtig wie möglich ließ er sich die Situation schildern.
Aus den etwas unzusammenhängenden Erzählungen der immer mal wieder
schluchzenden und sich schnäuzenden Frau konnte er aber schließlich so viel
verstehen, dass die Gebäudeversicherung der alten Fabrikhalle, in der die
fatalen Schweißarbeiten stattgefunden hatten, nichts Besseres zu tun hatte, als
Untersuchungen wegen angeblicher Fahrlässigkeit gegen Kolbich und seine
Kollegen anzustrengen. Und das vor dem Hintergrund, dass drei Arbeiter ums
Leben gekommen waren und andere auf der Intensivstation oder immer noch im Koma
lagen. Rosenmair konnte sich richtig vorstellen, wie irgendein Bleistift
spitzender Sachbearbeiter die Sache mit einem kurzen Vermerk ins Rollen
gebracht hatte. Null Fingerspitzengefühl, aber immer schön den eigenen Vorteil
suchen.
Rosenmair spürte die Wut in sich aufsteigen. Zwar ging es auch ihm
hauptsächlich um seinen Vorteil, sprich: seine Hemden. Und natürlich um Frau
Kolbich, damit sie sich wieder um die Hemden kümmern konnte. Aber er verspürte
nicht übel Lust, es auch den Versicherungen zu zeigen. Vorsichtig fragte er
Frau Kolbich nach weiteren Einzelheiten.
Die nicht weit vom Mönchengladbacher Abteiberg entfernt gelegene
Lagerhalle, in der früher im großen Stil Textilmaschinen hergestellt worden
waren, sollte mit großem Aufwand zu einem Discount-Fitnesscenter umgestaltet
werden. Kolbich, sein Kollege Wehmeyer und
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