Das letzte Koenigreich
Skalde ein Gedicht auf Guthrums Mutter vortrug. Ihrer Schönheit, so der Skalde, seien nur die Sterne gleichgekommen, und so liebreizend sei sie gewesen, dass die Blumen ihr zuliebe selbst im Winter geblüht hätten. «Sie war eine schreckliche Kuh», flüsterte mir Ragnar zu, «und so hässlich wie ein Kübel Gülle.»
«Du kanntest sie?»
«Ravn kannte sie. Er sagte immer, dass sie mit ihrer Stimme hätte Bäume fällen können.»
Seinem Beinamen «der Unglückliche» machte Guthrum alle Ehre. Fast wäre es ihm gelungen, Wessex in die Knie zu zwingen, hätte ihn nicht Halfdans Tod um den Sieg betrogen. Zwar trug er daran keine Schuld, doch machte sich unter den in Werham eingeschlossenen Kämpfern Unmut breit. Viele flüsterten hinter vorgehaltener Hand, dass unter Guthrums Führung kein Erfolg möglich sei, und vielleicht lag es an diesem Misstrauen, dass seine Stimmung immer finsterer wurde. Es kann allerdings auch sein, dass der Hunger die Ursache dafür war.
Denn die Dänen litten Hunger. Alfred hielt zwar Wort und schickte Nahrungsmittel, doch sie reichten nie aus, und ich fragte mich, warum die Männer nicht ihre Pferde schlachteten, statt sie auf den winterlichen Magerwiesen zwischen der Festung und dem Poole weiden zu lassen. Weil die Tiere immer dürrer wurden, gab man ihnen zusätzlich Heu aus den Vorräten der Stadt zu fressen, und als es auch damit ein Ende hatte, musste das Stroh von den Hausdächern herhalten. So konnten die Pferde, mehr schlecht als recht, bis zum Frühjahr durchgefüttert werden. Und die ersten Anzeichen dieses Frühjahrs waren mir mehr als willkommen. Das Lied der Misteldrossel, die in geschützter Lage blühenden Hundsveilchen, die Kätzchen an den Haselnussbäumen und das Quaken der Frösche im Sumpf. Der Frühling kam, und wenn das Land wieder grünen und Guthrum aus Werham abziehen würde, wären wir, die Geiseln, wieder frei.
Von dem, was draußen in der Welt vor sich ging, erfuhren wir nur wenig. Manchmal aber wurde uns eine Nachricht zugestellt, meist in Form eines Schriftstücks, das ans Tor oder an eine Weide genagelt wurde. Eine dieser Nachrichten war an mich gerichtet, und zum ersten Mal empfand ich Dankbarkeit dafür, dass Beocca mich lesen gelehrt hatte. Die Nachricht stammte von Pater Willibald, der mich wissen ließ, dass ich Vater eines Sohnes geworden war. Mildrith hatte kurz vor dem Julfest einen gesunden Jungen zur Welt gebracht und ihm den Namen Uhtred gegeben. Ich weinte vor Glück, als ich das las, und war so aufgewühlt, dass ich mich selbst am meisten darüber wunderte. Ragnar fragte mich, warum ich weinte, also erzählte ich es ihm, und er besorgte ein Fässchen Ale und wir feierten. Dann gab er mir einen kleinen Silberreif als Geschenk für den Jungen. Ich hatte einen Sohn. Uhtred.
Am nächsten Tag half ich Ragnar, die Windviper zu Wasser zu lassen. Sie hatte den Winter über im Trockenen gelegen und war frisch kalfatert worden. Wir richteten den Mast auf und beluden den Kielraum mit Steinen, um für Ballast zu sorgen. Danach jagten wir auf den Wiesen, auf denen die Pferde weideten, einen Hasen, den Ragnar über dem Vordersteven ausbluten ließ, um von Thor günstige Winde und von Odin glorreiche Siege zu erbitten. Schließlich ließen wir uns den Hasenbraten schmecken und tranken unser Alefässchen leer. Am nächsten Morgen kreuzte ein Drachenschiff auf. Es kam von hoher See, und ich wunderte mich, dass Alfred offenbar darauf verzichtet hatte, unsere Flotte die Mündung des Poole bewachen zu lassen. So konnte dieses einzelne Dänenschiff unbehelligt nach Werham gelangen und Guthrum eine Botschaft überbringen.
Ragnar äußerte sich nur vage über dieses Schiff. Es komme von Ostanglien, sagte er, was sich im Nachhinein als unwahr herausstellen sollte, genau wie der Hinweis, dass es lediglich Nachrichten von dort brächte. Tatsächlich war es aus dem Westen gekommen, aus Cornwalum, dem Land der Welschen. Doch das erfuhr ich erst später. Ich machte mir keine weiteren Gedanken um dieses Schiff, zumal ich nur eines im Kopf hatte: meinen Sohn. Uhtred Uhtredson.
Am selben Abend gab Guthrum ein Fest für die Geiseln. Es war ein schönes Fest mit guten Speisen und Ale, die das neu angekommene Schiff mitgebracht hatte. Guthrum pries uns als gute Gäste, schenkte jedem von uns einen Armreif und versprach, dass wir bald frei sein würden. «Wann?», fragte ich.
«Bald.» Sein Gesicht schimmerte im Feuerschein, als er mir mit seinem gefüllten Trinkhorn
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