Das letzte Koenigreich
Humbermündung.
Und zwei Tage später erreichten wir Eoferwic.
Der Königspalast war in Ordnung gebracht worden. Vor den hohen Fenstern hingen neue Schlagläden, auf dem Dach lag frisches, goldenes Roggenstroh, und die von Moosen überwucherten alten römischen Außenmauern waren sauber geschrubbt. Als Ragnar Zutritt verlangte, wurde er von den Wachen an der Pforte aufgefordert zu warten. Ich dachte, er würde sein Schwert ziehen, doch ehe er seiner Wut nachgeben konnte, tauchte Kjartan auf. «Mein Herr», grüßte er in säuerlichem Tonfall.
«Seit wann muss ein Däne an dieser Pforte warten?», knurrte Ragnar.
«Seit ich es angeordnet habe», erwiderte Kjartan, der herausgeputzt war wie der Palast. Er trug ein schwarzes Bärenfell, hohe Stiefel, ein Kettenhemd, ein Schwertgehänge aus rotem Leder und fast so viele Armreife wie Ragnar. «Ohne meine Erlaubnis kommt hier niemand herein», sagte er. «Ihr, Graf Ragnar, seid natürlich jederzeit willkommen.» Er wich zur Seite, um Ragnar, mich und die drei Männer, die uns begleiteten, in die große Halle eintreten zu lassen, wo mein Onkel vor fünf Jahren versucht hatte, mich von Ivar freizukaufen. «Wie ich sehe, habt Ihr immer noch das englische Bübchen in Eurer Gesellschaft», sagte Kjartan, den Blick auf mich gerichtet.
«Schau ihn dir an, solange du noch Augen hast», entgegnete Ragnar gelassen. «Ist der König da?»
«Er gewährt nur denen Audienz, die sich angemeldet haben », antwortete Kjartan.
Seufzend wandte sich Ragnar seinem ehemaligen Schiffsmeister zu und sagte: «Du reizt mich wie eine Laus. Wenn es dir gefällt, Kjartan, legen wir Haselnussruten aus und schlagen uns, wenn nicht, dann spute dich und ruf den König, denn ich will mit ihm reden.»
Kjartan biss die Zähne zusammen, war aber offenbar nicht darauf aus, gegen Ragnar anzutreten, und zog sich mit aufgesetztem Stolz in die hinteren Räume des Palastes zurück. Er ließ uns lange warten, doch schließlich kam uns König Egbert entgegen, gefolgt von sechs Wachen, zu denen auch der einäugige Sven zählte. Er schien wie sein Vater zu Wohlstand gekommen zu sein und war fast so groß wie ich, hatte breite Schultern und sehr kräftige Arme.
Egbert wirkte nervös, bemühte sich aber redlich um ein königliches Auftreten. Ragnar verbeugte sich vor ihm und sagte, dass er im Auftrag Halfdans Gerüchten nachgehen wolle, wonach in Northumbrien Aufständische für Unruhen sorgten, und falls sich diese Gerüchte bewahrheiten sollten, werde er gegen die Aufständischen vorgehen. «Nein, hier gibt es keine Unruhen», erwiderte Egbert, doch seine Stimme zitterte so sehr vor Angst, dass ich glaubte, er würde sich in die Hose machen.
«Es gab ein paar Auseinandersetzungen im Bergland», erklärte Kjartan mit abfälliger Miene, «aber die waren schnell beendet.» Er klopfte auf sein Schwert, um anzudeuten, womit sie beendet worden waren.
Ragnar fragte weiter, konnte aber nichts mehr in Erfahrung bringen. Angeblich hatten sich ein paar Männer gegen die Dänen erhoben und auf der Straße, die zur Westküste führte, mehrere Überfälle gemacht. Doch sie waren, so Kjartan, gestellt und getötet worden, und damit wäre alles gesagt. «Northumbrien ist sicher», sagte er abschließend. «Ihr könnt also zu Halfdan zurückkehren, mein Herr, und mit einem weiteren Anlauf versuchen, Wessex zu unterwerfen.»
Ragnar ging auf die Spitze nicht ein und sagte: «Ich werde nach Hause gehen, meinen Sohn beerdigen und in Frieden leben.»
Sven befingerte seine Schwertscheide und stierte mich aus seinem einzelnen Auge missmutig an. Die Feindseligkeit zwischen uns war so offenkundig wie die zwischen Ragnar und Kjartan, doch am Ende blieben wir unbehelligt. Die Schiffe wurden ans Ufer gezogen, das Silber, das wir in Readingum bekommen hatten, unter den Mannschaften verteilt, und wir kehrten mit Roriks Asche heim. Sigrid weinte laut, als sie von Roriks Tod erfuhr. Sie zerriss ihr Gewand, raufte sich das Haar und wurde von anderen Frauen begleitet, als wir Roriks Asche auf den Gipfel des nächstgelegenen Hügels brachten und begruben. Ragnar blieb noch eine Weile dort, schaute über das Land und betrachtete die weißen Wolken, die über den westlichen Himmel zogen.
Den Rest des Jahres verbrachten wir zu Hause. Wir schnitten Gras, ernteten das Getreide und mahlten es zu Mehl. Wir machten Käse und Butter. Händler und Reisende brachten uns Nachrichten. Doch aus Wessex gab es keine Neuigkeiten. Alfred regierte anscheinend
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