Das letzte Opfer (German Edition)
es selbst getan.»
«Wann im September 92?», fragte Scheib.
«Zweite Septemberwoche», antwortete Norbert, «ein Montag war das. Nach dem Gespräch mit meinem Vater war Marko plötzlich verliebt. Mein Vater wollte Karen zu sich nehmen und dafür sorgen, dass sie in Therapie geht. Das Risiko konnte Marko natürlich nicht eingehen.»
«Das heißt, er hat in den ersten beiden Jahren keine Annäherungsversuche gemacht», stellte Scheib fest.
Norbert grinste abfällig. «Im Gegenteil, er bekam Tobsuchtsanfälle, wenn sie in der Agentur saß. Da hing sie damals ständig rum, wollte von ihm hören, wie es passiert war. Sie hatte keine Ahnung. Ich auch nicht. Erst als ich den Bericht las, hat das alles einen Sinn ergeben.»
Er nahm das Foto von Li wieder an sich, betrachtete es mit wehmütiger Miene, wollte es zurück in die Hemdtasche schieben. Klinkhammer hielt die Hand auf. «Das brauchen wir.»
«Natürlich», murmelte Norbert, atmete tief durch und kam zum nächsten Opfer. Marion Schneider, ihr Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Er wusste nur nicht, wo er es gesehen haben könnte. Vielleicht vor Jahren in der Agentur, dort hatten ja immer eine Menge Fotos gelegen. Und im Sommer 1992, vor Marions Verschwinden und den Aufnahmen für Bademoden, war er häufig dort gewesen, um Karen abzuholen.
Nach ihrem Umzug, vom Frühjahr 1994 bis zu ihrer Rückkehr nach Sindorf ein Jahr später, habe er sie mindestens dreimal in der Woche besucht. Und bei solch einer Gelegenheit habe er ein Foto von Julia Roberts gesehen. Da war er völlig sicher, weil es sich um dieselbe Aufnahme handelte, die im Stern veröffentlich war. Er wusste auch, dass Marko zwei Wochen vor der Hochzeit für einige Tage unterwegs gewesen war, angeblich, um eine Verwandte zu besuchen, die nicht zur Hochzeit eingeladen wurde. Ebenso gut konnte er in München gewesen sein.
Zwei Jahre später, während Karens Schwangerschaft im September 1996 hatte Marko keine längeren Reisen unternommen, aber ein paar Mal Termine gehabt wie gestern, in aller Herrgottsfrühe auf die Autobahn, spätabends oder in der Nacht zurück. Sabine Bergholts Gesicht sagte Norbert nichts, die Beschreibung ihrer Kleidung um so mehr.
Ein hellgraues Kostüm mit knielangem Rock habe Marko nach Kevins Geburt ins Krankenhaus gebracht, damit Karen zur Entlassung nicht noch einmal das Umstandskleid anziehen musste. Das Kostüm war eine Nummer größer als ihre gewohnten Sachen, was Marko mit seiner Weitsicht erklärte, immerhin hatte sie gerade eine Schwangerschaft überstanden. Sie habe es nicht oft getragen, weil sie nach kurzer Zeit wieder ihr normales Gewicht gehabt hätte. Außerdem habe sie zu dem Rock keinen passenden Gürtel gefunden. Es hätte ein ganz schmaler sein müssen.
Der fehlende Gürtel war im Bericht nicht erwähnt. Es konnte sich also um Sabine Bergholts Kostüm gehandelt haben. Zwar war es nicht üblich, seiner Frau getragene Kleidung zu schenken, aber nach Aufnahmen für einen Katalog, frisch aus der Reinigung, so hatte Karen die Sachen meist bekommen und nicht stutzig werden können. Marko hätte nur das Etikett des Herstellers austauschen oder entfernen müssen, um sich daran zu ergötzen, seine Frau in den Kleidern eines Opfers zu sehen.
Die Festnahme
Bis um Mitternacht saßen sie zusammen. Solange Norbert sprach, war es für Thomas Scheib einigermaßen erträglich. Der Zorn wühlte unverändert in ihm. Zusätzlich war ihm furchtbar übel. Er wusste nur nicht, ob die Wut auf einen Bruder, der sich eingebildet hatte, er könne einen Serienmörder überführen, indem er sich mal an dessen Fersen heftete, oder das eigene Schuldgefühl ihm den Magen umdrehte. Die Stimmen in seinem Kopf wollten nicht verstummen. «Unsinn, das kann er sich nicht leisten!» «Ich komme nach, sobald ich alles erledigt habe!» Dazwischen fragte nun auch noch Lukas Wagenbach: «Wer garantiert dir, dass er sie aus den Augen gelassen hat?»
Mit knapper Not entwischt, um ihn vier Jahre später zu heiraten? Oder er sie, nachdem er von ihrem Vater hörte, dass sie für ihn doch noch zu einer Gefahr werden konnte. Das war totale Macht, absolute Kontrolle und an Infamie nicht zu überbieten.
Er versuchte, seine Gefühle auszuschalten und so rational wie möglich damit umzugehen. Wenn Karen tatsächlich gesehen hatte, wie Mei Li Jau ertränkt wurde, wenn Marko befürchten musste, dass sie mit Hilfe eines Therapeuten verschüttete Erinnerungen aufwühlte, hatte er handeln müssen. Ihre
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