Das letzte Opfer (German Edition)
der Bewältigung ihres Traumas erhielt? Warum waren Norbert ein paar harmlose Keramikenten an einem Zierteich ein Dorn im Auge? Warum regte er sich auf, als Karen an Kevins Geburtstag den Stern aufschlug? Und warum legte er ihr dringend nahe, ihre Therapie bei Doktor Gerber abzubrechen? Weil er verhindern wollte, dass sie sich erinnerte.
«Sie haben meine Stieftochter gesehen», sagte er zu Klinkhammer, um Thomas Scheib kümmerte er sich nicht. «Sie ist das Ebenbild meiner Frau. Zwischen meiner Frau und Norbert herrscht ebenfalls eine starke, familiär bedingte Ähnlichkeit. Wie sähe wohl eine Tochter von Norbert aus?»
«Wollen Sie damit andeuten, Ihr Schwager hätte seine eigene Schwester vergewaltigt?», fragte Klinkhammer fassungslos über so viel Dreistigkeit. Er hatte Marko ja auch wegen der Vergewaltigung in Verdacht.
«Ich ziehe das in Betracht», antwortete Marko. «Und meine Frau tat das auch. Sie konnte es sich nicht eingestehen und ist fast daran zerbrochen. Norbert war an dem Abend, als es passierte, in der Diskothek am Clodwigplatz. Er hat sie nach Hause geschickt und ist ihr wenige Minuten später gefolgt.»
«Woher wissen Sie das?», fragte Klinkhammer. «Waren Sie auch da? Das war doch für Sie so eine Art Stammlokal, oder?»
«Nein», sagte Marko. «In Diskotheken habe ich mich nie aufgehalten. Aber ich kann lesen. Und das habe ich gestern getan. Deshalb war ich eine Stunde lang im Haus. Es war dumm, das nicht sofort zu sagen. Es war mir peinlich. Ich betrachte es immer noch als einen Vertrauensbruch. Der Computer war in Betrieb, als ich ins Haus kam. Ich konnte nicht widerstehen. Danach ist mir die Lust an diesem Familienausflug endgültig vergangen. Ich konnte auch nicht arbeiten.»
Klinkhammer streifte Scheib mit einem auffordernden Blick – nun sagen Sie doch auch mal was. Aber Scheib wusste nicht, was er sagen sollte, nahm an, dass Marko sich Karens Aufzeichnungen tatsächlich angeschaut hatte, um sicherzugehen, dass sie keine Hinweise auf seine «Termine» und auch sonst nichts Verräterisches enthielten. Aber nicht gestern Mittag. In einer Stunde waren all diese Dateien nicht zu bewältigen. Wahrscheinlich hatte er nur den letzten Text kontrolliert, um sicherzugehen, dass er auch darin gut wegkam.
Als er schwieg, erkundigte Marko sich: «Haben Sie Norbert schon gefragt, wie er jedes zweite Jahr seinen Urlaub verbringt und wo er am Ostersamstag war?» Mit einem bitteren Lächeln beantwortete er die Frage selbst: «Sie haben nicht. Wozu auch, wo er einen so vortrefflichen Zeugen abgibt.»
Mehr hörten sie nicht von ihm. Keine Angaben, wo oder mit wem er den vergangenen Freitag verbracht hatte. Keine Angaben, was ihn am 14. September 1990 ins Bergische Land geführt hatte. Keine Angaben, wo er sich aufgehalten hatte an den Tagen, als die acht Frauen verschwanden. «Sie fragen den falschen Mann», wiederholte er nur noch mehrfach.
Kurz vor elf ließen sie ihn zurück in die Zelle bringen und fuhren nach Sindorf. Thomas Scheib bestand auf einem Abstecher zum Amselweg. Er wollte die Schmuckrechnung mit eigenen Augen sehen, ehe er sich erneut mit Norbert beschäftigte. Während der Fahrt redete Klinkhammer ohne Unterbrechung auf ihn ein, ließ ihm keine fünf Sekunden Ruhe, um nachzudenken über das, was Marko von sich gegeben hatte.
«Was halten Sie davon?», begann Klinkhammer. Für ihn gehörte es zum Alltag, sich mit Kollegen auszutauschen. Und wann hatte man schon mal Gelegenheit, die eigene Meinung von einem BKA-Sonderermittler auf Tauglichkeit abklopfen zu lassen?
Scheib kam gar nicht zu einer Antwort. Klinkhammer sprach ohne Pause weiter. «Rein äußerlich wäre Dierden nicht der schlechteste Ersatzmann. Alles, was er gegen Stichler vorgebracht hat, passt auch auf ihn. Frau Stichler wollte ihre Tochter übrigens partout keinem Vaterschaftstest aussetzen. Aber Dierden hatte gestern nicht die Zeit, seine Schwester aus dem Haus zu holen. Die sind um zehn Uhr nach Brühl aufgebrochen, haben ihre Nachbarn bestätigt.»
Er versuchte, Klinkhammers Ausführungen zu ignorieren. Zu retten gewesen wäre! Das war der entscheidende Satz. Er glaubte zu begreifen, was sich abgespielt hatte. Marko hatte es sich nicht leisten können, vor den Augen der Nachbarschaft mit Karen wegzufahren. Er hatte sie im Haus nicht getötet, wie Klinkhammer meinte, nur verletzt hatte er sie, vielleicht entgegen seiner Absicht verletzen müssen, weil sie sich gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte. Warum sie nicht
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