Das letzte Opfer (German Edition)
wäre idiotisch gewesen, Olivers Täterschaft zu bestreiten und zu behaupten, er sei nur über den Zaun gestiegen, um sich mit Karen zu unterhalten. Wie lange er sich im Haus aufgehalten hatte, ohne bemerkt zu werden, konnte nur er selbst beantworten. Er mochte sich zuerst gründlich umgeschaut haben. Man kam die Treppe zum ersten Stock hinauf, ohne ein Geräusch zu verursachen, das probierten sie aus. Sich ein Messer aus der Küche und einen Lappen holen, um blutige Fingerspuren abzuwischen, machte ebenfalls keinen Lärm.
Scheib konnte sich nicht vorstellen, dass Oliver sich mit der Wischerei aufgehalten hätte. Wenn Stichler das übernommen hatte, nannte sich das zumindest Begünstigung. Es war eine mehr als vage Möglichkeit, aber die einzige, die er noch sah, um Karens Mann für ihren Zustand verantwortlich zu machen und ihn weiter in Haft zu halten. Stichler musste gewusst haben, dass Oliver Lohmann im Anmarsch war.
Jeden Abend versuchte er, Klinkhammer davon zu überzeugen. Ob der ihm glaubte, war an der unbewegten Miene nicht abzulesen. Das war ihm auch nicht so wichtig. Klinkhammer sollte nur begreifen, dass er keinen bösen Geist gejagt hatte. Die acht – mit Mei Li Jau sogar neun – toten und vermissten Frauen waren schließlich keine Hirngespinste. Er hatte ihren Mörder nur unterschätzt und sich austricksen lassen. Wenn Klinkhammer das verinnerlichte, durfte er ruhig annehmen, er sei verrückt genug gewesen, einen verzweifelten jungen Mann, der mit seiner Schwester den einzigen Halt verloren hatte, für seine Zwecke einzuspannen.
Er hatte nicht. Und warum sollte er Oliver Lohmann erzählt haben, wie Sabine Bergholt gestorben war? Dass der Junge Karen mit dem Kopf in verdrecktes Putzwasser gedrückt hatte, war wohl nur das Bedürfnis gewesen, die Frau des Mörders zu demütigen. Scheib konnte sich gut in ihn hineinversetzen. Was ging denn vor in einem Menschen, der seine geliebte Schwester halbverwest auf der Couch liegen sah?
Wie Oliver die Nacht verbracht hatte, durch welche Hölle er gegangen war, konnte niemand sagen. Am Samstagmorgen war er sehr umsichtig vorgegangen, hatte sich offenbar psychisch auf das eingestellt, was er beabsichtigte. Er sei ruhig gewesen, erklärten die beiden Werkstattkollegen, die ihn noch gesehen hatten, unheimlich ruhig sogar. Natürlich hatten sie ihn sofort nach Barbara gefragt und auf den Mazda angesprochen. Er hatte erklärt, das Auto gehöre Barbaras Freund, sie sei damit nach Hause gekommen, um ihre Sachen zu holen, weil sie jetzt nach München ziehen wolle. Er selbstverständlich auch. Er sei nur gekommen, um seine Kündigung persönlich vorbeizubringen.
Er hatte tatsächlich eine handgeschriebene Kündigung dabei. Damit ging er ins Büro. Ein Kollege, der ihm zwei Minuten später folgte, weil ihm die Geschichte nach all dem Gefluche auf Barbaras Freund doch sehr merkwürdig vorkam, erwischte ihn am Computer, wo Oliver Kundendaten studierte. Offenbar hatte er Marko Stichlers Adresse nicht gekannt. Damit erklärte sich, warum er nicht schon in der Nacht am Amselweg aufgetaucht war.
Aber er musste angerufen haben, darauf hätte Scheib geschworen. Nach Hause gekommen war Oliver schätzungsweise kurz nach neun Uhr abends. Etwa eine Stunde später hatte Jasmin zwei Anrufe erhalten, während sie noch mit Kevin allein war. Ein Mann war am Apparat gewesen. Die Stimme habe heiser und schnaufend, irgendwie verstellt geklungen, sagte Jasmin. Der Mann habe sofort begonnen, sie in übelster Weise zu beschimpfen, und wissen wollen, wo sie wohne.
Im ersten Schreck hatte Jasmin aufgelegt. Doch das Telefon klingelte sofort wieder. Dann sagte der Mann schlimme Dinge, die Jasmin nur mit hochroter Miene über die Lippen brachte. Er drohte, sie aufzuschlitzen und ihre Fotze als Futter für die Ratten in den Kanal zu werfen, wenn «etwas dran sei» und sie es wagen sollte, noch einmal aufzulegen. Starker Tobak für ein elfjähriges Mädchen.
Jasmin schickte Kevin, seine Trillerpfeife zu suchen. Dass man mit solch einem Instrument unliebsame Anrufer loswurde, hatte Sarah ihr einmal erklärt. Aber Kevin konnte die Pfeife nicht finden, so war sie gezwungen, zuzuhören, bis der Anrufer das Gespräch beendete mit dem Hinweis, er bekäme schnell heraus, wo er sie finden könne. Weglaufen habe keinen Sinn, er sei schon ganz nah.
Anschließend bemühte Jasmin sich, Hilfe herbeizurufen. Norbert, wen sonst? Doch Norbert war nicht da. Und Sarah war zwei Häuser weiter zu ihren Eltern
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