Das letzte Opfer (German Edition)
davon war nichts da. Sein Alter war ihr bekannt, sein Familienstand, verwitwet, der Promillegehalt in seinem Blut, dass er sechs Bierflaschen in einer Plastiktüte am Lenker des Rades bei sich gehabt hatte, die dann zerbrochen waren. Das waren die Fakten.
Die Unfallfotos kannte sie natürlich. Ein deformierter Kopf mit blutverkrustetem, weißem Haarkranz, ein gekrümmter Körper, halb auf Asphalt und halb auf einem kümmerlichen Grünstreifen, wo es keinen Anhaltspunkt für einen Größenvergleich gab. Aber wozu brauchte sie eine Größe? Dass er durch sie gestorben war, machte ihn zu einem Riesen. Und Riesen übersah man normalerweise nicht.
Seit ihrem Einzug in das Haus lag er wieder vier Kilometer hinter ihr am Straßenrand, wie in den ersten Jahren nach dem Unfall, als sie noch daheim gelebt hatte. Wenn Marko zu Hause war, wachte sie auf und sah das Blut an der Windschutzscheibe. Mit ihm darüber zu reden, wagte sie nicht. Er hätte doch annehmen müssen, es hinge mit ihm zusammen. Und das tat es nicht. In den Monaten bei Margo war sie jedes Mal neben ihm aufgewacht, ohne etwas anderes zu sehen als seinen Kopf, der immer halb unter einem Laken verschwand.
Es war der Springbrunnen! Da war sie völlig sicher. Tagsüber hörte sie ihn nur, wenn sie sich im Garten aufhielt. Aber spätabends oder frühmorgens, wenn rundum alles still war, hörte sie ihn auch im Schlafzimmer. Marko bestand darauf, bei offener Balkontür zu schlafen. Bei kühler Witterung oder Regen war die Tür zumindest in Kippstellung offen. Und ständig war dieses Plätschern zu hören – wie eine Aufforderung, sich zu erinnern.
Scheuch doch mal die Enten weg! Es waren wilde Enten gewesen und viele, das sah sie noch vor sich, ausgewachsene Tiere und Küken, die schon keine richtigen Küken mehr waren und ihr die Sicht versperrten. Aber nicht auf der Straße, dort hatte Marko ja auch keine gesehen. Und Enten waren meist am Wasser.
Sie wusste so gut wie nichts über diese verhängnisvolle Fahrt. Natürlich erinnerte sie sich noch, warum sie losgefahren war, nicht, um Li und Jasmins Vater zu treffen, wie sie es der Polizei erzählt hatte, sondern um zu verhindern, dass die beiden sich trafen. Das war die Wahrheit, die hätte sie am liebsten auch noch vergessen.
Sie erinnerte sich, dass sie auf den Parkplatz gegenüber der Auffahrt zur A4 gefahren war, um in Norberts Autoatlas nachzuschauen, wie sie ins Bergische Land käme und wo ungefähr Kürten-Biesfeld lag. Halb vier war es gewesen, und Li hatte nur bis um vier Uhr an dem romantischen Fleckchen zu tun. Wo sie anschließend mit Jasmins Vater verabredet war, hatte sie nicht gesagt. Und in einer halben Stunde war es nicht zu schaffen. Das erkannte sie schon auf dem Parkplatz.
Vielleicht war sie eine Weile im Bergischen Land herumgefahren, hatte rund um Kürten-Biesfeld gesucht. Wahrscheinlich hatte sie sich hoffnungslos verfahren, wie die Polizisten vermuteten. Vielleicht war sie, als die Zeit knapp wurde, irgendwo ausgestiegen, um nach dem Weg zu fragen, und bei der Gelegenheit über die Enten gestolpert statt über einen Menschen, der ihr erklären konnte, wie sie zurück auf die Autobahn käme. Vielleicht.
Und dann entdeckte sie bei einem Einkaufsbummel eine komplette Entenfamilie aus Steingut. Sie sahen fast aus wie die, die sie im Kopf hatte. Marko verlor kein Wort, als er heimkam und die Figuren beim Zierteich stehen sah. Christa erkundigte sich misstrauisch: «Musste das sein? Fängst du jetzt wieder an mit den Viechern?» Und Norbert verlangte wütend: «Schmeiß bloß den Kitsch weg, sonst tu ich es.»
Sie warf die Enten nicht weg, obwohl sie nichts an dem Moment beim Aufwachen, nichts an dem Eindruck von Blut an der Windschutzscheibe änderten. Aber sie hatten eine Wirkung. Wenn sie nahe an den Teich heranging, sodass sie die Enten nur noch aus den Augenwinkeln sah und ihr Gesicht im Wasser betrachten konnte, wurde sie ganz ruhig.
Es mochte kindisch sein und naiv. Aber mit den Enten wurde der kleine Zierteich zu ihrem Zauberspiegel. Er zeigte ihr die achtzehnjährige Karen, die aufbrach, um ihre Freundin und den Vater ihrer Tochter zu finden in einer Gegend, in der sie sich nicht auskannte. Ein leichtsinniges junges Mädchen, das seine Fähigkeiten hoffnungslos überschätzte und sich einbildete, nach ein paar Übungsstunden auf einem leeren Parkplatz ein Auto in jeder Situation zu beherrschen. Aber einen Menschen hatte diese Karen nicht getötet. Als sie die Enten sah, war sie
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