Das letzte Opfer (German Edition)
sonderbare Gefühle auf.
Margo erzählte zum hundertsten Mal von ihrer Schwangerschaft mit Rabea, den Monaten nach der Geburt, den finanziellen Sorgen und der Illusion, mit dieser Tochter in späteren Jahren einen Menschen zu haben, der für sie da wäre. Sie weinte noch, als sie längst wieder in der Wohnung waren, sprach bis zum Abend über den schwärzesten Tag in ihrem Leben, Jonas vierten Geburtstag.
Die Kinder hatten ihn am Rhein verbracht. Marko spielte mit seiner kleinen Schwester am Ufer. Rabea schwamm zu weit hinaus, bekam vielleicht einen Krampf oder geriet in einen Strudel. Marko bemerkte viel zu spät, dass sie nicht mehr zu sehen war. Er tat, was er nur konnte. Bis zur völligen Erschöpfung tauchte er nach ihr, musste von herbeieilenden Spaziergängern mit Gewalt daran gehindert werden, sich erneut ins Wasser zu stürzen. Dass er Rabea nicht hatte retten können, hatte er nie verwunden.
Es war das erste Mal, dass Margo die Geschichte in allen Einzelheiten erzählte. Bisher hatte sie immer nur von einem tragischen Unfall gesprochen. Ihre Geheimniskrämerei in diesem Punkt hatte Christa anfangs ja vermuten lassen, dass Rabea an Aids gestorben war.
Karen sah Margo im Garten stehen, auf den Zierteich zeigen. «Mir wird übel, wenn ich diesen Tümpel sehe.» Verständlich. Und Margo hatte auch gesagt: «Wenn du dein Kind auf diese Weise verlierst.» Plötzlich fröstelte es sie, als strample sie in einem knappen Bikini in eisigem Wasser. Marko stand am Ufer, lachte sie aus – und sprach von einem schönen Plätzchen am Rhein.
Margo erzählte weiter, dass nach Rabeas Tod auch noch Jona schwer erkrankt und sie in Depressionen verfallen war. Wenn Marko nicht gewesen wäre. Zwischendurch sagte sie: «Sag, wenn ich dir ein Taxi rufen soll, Karen.»
Zurückfahren konnte Margo sie nicht, sie trank entschieden zu viel. Und Karen mochte sie nicht alleine lassen, so aufgelöst, wie sie war. Ihr graute auch ein wenig davor, selbst alleine zu Hause zu sitzen und Gedanken zu wälzen. Zwar war sie nicht auf eine Übernachtung eingerichtet, doch mit einer Zahnbürste konnte Margo bestimmt aushelfen, auch mit Kosmetika und frischer Kleidung. Nur Kevin müsste nochmal dasselbe anziehen.
«Ich kann bleiben», sagte sie. «Zu Hause sitze ich nur allein herum. Und ich habe morgen ohnehin einen Termin hier in Köln. Wenn ich Kevin für zwei Stunden am Nachmittag bei dir lassen kann, muss ich nicht hin und her fahren.»
«Natürlich», sagte Margo. Dankbar für das Angebot, bezog sie schnell das Bett in Markos ehemaligem Zimmer. Es war breit genug, sie hatten monatelang zusammen darin geschlafen. Kevin nörgelte, wollte die Nacht nicht mit seiner Mutter in einem Bett verbringen, lieber allein in Jonas Zimmer schlafen, weil dort noch etwas Spielzeug in den Regalen lag.
Sonst gab Margo ihm immer nach, doch das lehnte sie ab, die Zimmer ihrer Töchter waren tabu. «Er könnte alleine hier schlafen», schlug sie vor. «Wenn es dir nichts ausmacht, in meinem Zimmer zu übernachten.»
Es machte ihr nichts aus. In Margos Schlafzimmer stand ein Doppelbett. Margo verschloss die Verbindungstür zu Rabeas Zimmer, damit Kevin sich dort nicht gründlich umtat und am Ende noch auf den Dachboden stieg. Neben dem Kleiderschrank befand sich eine schmale Tür, hinter der eine Treppe steil hinaufführte. Die Stufen waren schmal, uralt und abgewetzt, ein Geländer zum Festhalten gab es nicht, aber eine Menge Gerümpel dort oben, aufregend für ein kleines Kind und gefährlich. Marko hatte einmal erzählt, dass Rabea und er als Kinder oft auf dem Dachboden gespielt und sich häufig an irgendwas verletzt hatten.
Karen war noch nie oben gewesen. Es gruselte sie schon, wenn sie nur einen Blick in Rabeas Zimmer warf. Alles war noch so wie an dem Tag, an dem Margos älteste Tochter zum letzten Mal durch die Tür getreten war. Auf dem Plattenspieler lag die LP, die Rabea zuletzt gehört hatte. Am prall gefüllten Kleiderschrank stand eine Tür halb offen. Aus dem Schminktäschchen auf der Kommode ragte ein Puderquast heraus. In einer muschelförmigen Schale daneben knäuelte sich Modeschmuck. Am schlimmsten war das übergroße, gerahmte Foto über dem Bett. Rabea als Sechzehnjährige, kurz vor ihrem Tod, aufgenommen von Markos Vater. Dunkle Haut, lange, krause Haare, die dunklen Augen schienen einem zu folgen, wenn man sich im Zimmer bewegte.
Wie oft war Marko durch die Verbindungstür gegangen, hatte in dem Bett geschlafen, damit sie sich
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