Das letzte Revier
unterschiedlichen Positionen aus, die Arme mal nah beieinander, mal weit ausgestreckt in einer Kreuzigungshaltung. Selbstverständlich steht Marino die ganze Zeit über mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Er baumelt oder hängt nicht eine Sekunde. »Das Gewicht des Körpers an ausgestreckten Armen erschwert die Ausatmung«, erkläre ich. »Man kann einatmen, aber nur schwer ausatmen, weil die Zwischenrippenmuskeln nicht richtig funktionieren. Über einen längeren Zeitraum führt das zum Tod durch Ersticken. Dazu kommen der Schock der Folterschmerzen, Angst und Panik. Das alles kann definitiv zu Herzrhythmusstörungen führen.«
»Was ist mit Nasenbluten?« Marino streckt die Hände aus, und ich studiere die Einkerbungen, die das Garn in seiner Haut hinterlassen hat. Sie weisen ähnliche Winkel auf wie die des Toten. »Erhöhter intrakranialer Druck«, sage ich. »Wenn man den Atem anhält, kann man Nasenbluten kriegen. Da keine anderen Verletzungen zu erkennen sind, ist das sehr wahrscheinlich.«
»Meine Frage ist, ob jemand ihn umbringen wollte?«, sagt Terry. »Man hängt nicht jemanden auf und foltert ihn, um ihn dann wieder gehen zu lassen, damit er die Geschichte erzählen kann«, sage ich. »Ich will mich nicht festlegen, was Todesart und -ursache angeht, bis wir die Ergebnisse der toxikologischen Tests haben.« Ich blicke zu Marino. »Aber ich glaube, du solltest das als Mord behandeln, als einen sehr grausamen.«
Wir diskutieren das Ganze, als wir später im Auto auf dem Weg nach James City County sind. Marino bestand auf seinem Pickup, und ich schlug vor, auf der Route 5 nach Osten de n Fluss entlangzufahren, durch Charles City County, wo sich neben der Straße die Plantagen aus dem achtzehnten Jahrhundert in breiten brachliegenden Feldern bis zu den Ehrfurcht gebietenden Herrenhäusern und Wirtschaftsgebäuden von Sherwood Forest, Westover, Berkeley, Shirley und Belle Air erstrecken. Kein Tourbus ist in Sicht, keine Holzlaster oder Straßenarbeiten, die Läden sind geschlossen. Es ist der 24. Dezember. Die Sonne scheint durch endlose, von alten Bäumen geformte Bögen, Schatten sprenkeln den Asphalt, und von einem Schild bittet Smoky der Bär um Hilfe inmitten einer idyllischen Landschaft, in der zwei Männer auf barbarische Weise umkamen. Es sieht nicht danach aus, als könnte hier etwas so Abscheuliches passieren, bis wir zum Fort James Motel und dem dazugehörigen Campingplatz kommen. Etwas abseits von der Route 5 steht im Wald ein Durcheinander von schäbigen Hütten, rostenden Wohnwagen und Motelgebäuden, von denen die Farbe abblättert. Das Ganze erinnert mich an Hogan's Alley in der FBI-Akademie: billig gebaute Fassaden, hinter denen zwielichtige Gestalten vom Gesetz gestellt werden.
Die Rezeption befindet sich in einem kleinen Holzhaus unter kümmerlichen Kiefern, die das Dach und den Boden mit braunen Nadeln bedeckt haben. Davor lugen Getränke- und Eiswürfelautomaten durch die Büsche. Kinderfahrräder liegen halb kaputt auf dem Laub, und alte, nicht vertrauenswürdige Wippen und Schaukeln stehen herum. Eine freundliche Mischlingshündin, deren Rückgrat von chronischer Trächtigkeit durchhängt, erhebt sich auf ihre alten Füße und starrt uns von der schiefen Veranda aus an. »Ich dachte, Stanfield wollte uns hier treffen.« Ich öffne meine Tür.
»Was weiß denn ich.« Marino steigt aus, seine Augen sind überall. Ein Rauchschleier zieht aus einem Kamin und schwebt nahezu horizontal mit dem Wind davon. Durch ein Fenster sehe ich eine blinkende, grelle Weihnachtsbeleuchtung. Ich spüre, dass wir beobachtet werden. Ein Vorhang bewegt sich, tief au s dem Haus dringen gedämpft die Geräusche eines Fernsehers, wir stehen wartend auf der Veranda, die Hündin beschnüffelt meine Hand und leckt daran. Marino kündigt uns mit Faustschlägen gegen die Tür an und ruft schließlich: »Jemand zu Hause? He!« Wieder schlägt er mit der Faust gegen die Tür. »Polizei!«
»Ich komm ja schon«, hören wir die ungeduldige Stimme einer Frau. Ein hartes, müdes Gesicht füllt den Raum zwischen Tür und Rahmen, die eingehakte Kette ist gespannt. »Sind Sie Mrs. Kiffin?«, fragt Marino sie. »Wer sind Sie?«, erwidert sie.
»Captain Marino, Polizei von Richmond. Das ist Dr. Scarpetta.«
»Warum bringen Sie eine Ärztin mit?« Die Stirn in Falten gelegt, sieht sie mich aus dem schattigen Spalt an. Zu ihren Füßen rührt sich etwas, und ein kleines Kind späht zu uns herauf und lächelt wie ein
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