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Das Letzte Ritual

Das Letzte Ritual

Titel: Das Letzte Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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wobei jeweils der eine damit beschäftigt war, den anderen zu foltern oder auf irgendeine Art zu quälen.
    Matthias trat zu Dóra und betrachtete das Bild. »Dies«, er verzog sein Gesicht ein wenig, »dies ist ein Bild, das Harald von seinem Großvater geerbt hat. Es stammt aus Deutschland und stellt den dortigen Zustand um 1600 dar, als die religiösen Auseinandersetzungen am heftigsten waren. Wie Sie unschwer erkennen können, war es eine grausame Zeit.« Matthias wendete sich von dem Kupferstich ab. »Das Besondere an diesem Bild ist, das es auch aus jener Zeit stammt, also keine spätere Interpretation ist. Diese sind meistens weniger realistisch und übertriebener. Vielleicht ist das Bild aber dennoch stilistisch ein wenig modifiziert.«
    »Übertriebener?«, fragte Dóra entgeistert. Was konnte übertriebener sein als das hier?
    »Tja«, erwiderte Matthias und zuckte mit den Schultern. »Durch meine Arbeit für die Guntliebs habe ich diese Epoche ein wenig kennen gelernt, und glauben Sie mir, dieses Bild ist bei weitem nicht das Schlimmste aus ihrer Sammlung.« Er grinste sarkastisch. »Dieses könnte man, im Vergleich zu den anderen, sogar gut ins Kinderzimmer hängen.«
    »Meine Tochter hat ein Poster von Minnie Maus an der Wand«, bemerkte Dóra und trat zum nächsten Gemälde. »Sie können davon ausgehen, dass ein solches Bild niemals bei ihr im Zimmer hängen würde, und auch nicht an irgendeiner anderen Wand in meinem Haus.«
    »Nein, das ist nicht jedermanns Sache«, antwortete Matthias und folgte Dóra zu einem Bild, das einen Mann zeigte, der auf einer Streckbank verstümmelt wurde. Eine Gruppe von in Talare gekleideten Männern saß dicht beieinander und schaute zwei Henkern konzentriert dabei zu, wie diese unter großer Anstrengung ein Rad an der Streckbank drehten. Das Ziel war wohl, die Gliedmaßen des Mannes noch weiter auseinanderzureißen und seine Qual dadurch noch zu verstärken. Matthias deutete auf die Bildmitte. »Dieses zeigt die Foltermethoden der Inquisition, stammt ebenfalls aus Deutschland. Sie sind damals sehr weit gegangen, um Geständnisse zu erzwingen, wie man sehen kann.« Er schaute Dóra an. »Für Sie als Rechtsanwältin ist es bestimmt interessant, den Ursprung der Folter in Europa zu ergründen. Daraus entwickelte sich schließlich im weiteren Sinne die Rechtswissenschaft.«
    Dóra stellte sich auf weitere Beleidigungen ihres Berufszweiges ein. Dies hatte sie seit dem Beginn ihres Jurastudiums über sich ergehen lassen müssen. »Ja, klar – wir Rechtsanwälte übernehmen natürlich die volle Verantwortung.«
    »Nein, ernsthaft«, erwiderte Matthias. »Im Mittelalter hatte jeder das Recht zur Anklage. Wer sich beleidigt oder als Opfer eines Gewaltverbrechens fühlte, musste den Täter selbst beschuldigen und Anklage erheben. Die Verhöre waren im Grunde lächerlich. Falls der Angeklagte vor Gericht nicht alles gestand oder es einen direkten Beweis für seine Schuld gab, wurde das Urteil in Gottes Hände gelegt. Der Angeklagte musste eine Prüfung absolvieren; über glühende Kohlen laufen oder er wurde gefesselt ins Wasser geschmissen und Ähnliches. Wenn seine Wunden beispielsweise nach einer gewissen Zeit verheilt waren oder er im Wasser unterging, galt er als unschuldig. Das brachte den Ankläger in eine verzwickte Lage, denn nun wurde er vor Gericht gestellt. Wie man sich denken kann, vermieden es die Leute, ihren Nachbarn anzuklagen, da die Gefahr bestand, dass sich die Sache plötzlich gegen sie selbst richtete.« Matthias zeigte auf den Mann auf der Streckbank. »Dieses System kam auf, als die Obrigkeit und die Kirchenoberhäupter merkten, dass Verbrechen, sowohl weltliche als auch religiöse, aufgrund der schwachen Stellung der Gerichtshöfe zunahmen. Um die Verbrechen zu bekämpfen, stützten sie sich auf römische Gesetze, bei denen die Anklage und das Gerichtsverfahren völlig anders aufgebaut waren. Angeklagte wurden verhört oder inquiriert; daher die Bezeichnung Inquisition. Die Kirche begann damit, die weltlichen Gerichtshöfe folgten und nun musste das Opfer eines Verbrechens weder Anklage erheben noch einen Fall vor Gericht bringen.« Matthias lächelte Dóra zu. »Ergo – Rechtsanwälte.«
    Dóra lächelte zurück. »Es ist aber ziemlich weit hergeholt, die Rechtswissenschaft für diesen Unfug verantwortlich zu machen.«Jetzt war sie an der Reihe, auf den armen Mann auf der Streckbank zu zeigen. »Verzeihen Sie, aber ich verstehe auch nicht ganz den

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